Der Präsident und die Presse – erste Aufzeichnungen aus der Kampfzone Bolivien

Damals, 2005, sagt die Ressortleiterin, habe sie für Evo gestimmt, habe gedacht, es müsse sich endlich etwas ändern. Doch nun habe der Präsident den Boden unter den Füssen verloren. Selbst die Indigenen, die ihn ins Amt getragen hätten, habe er zur Seite gewischt. Sie gibt ihrem Stuhl einen Ruck, wendet sich ihrem Computer zu, nur um gleich wieder in meine Richtung zu rotieren. Evo, sagt sie und schüttelt den Kopf, werde immer mehr zum Diktator. Es sei eine Schande.

Ich nicke, blicke auf meinen Bildschirm, und frage mich, wieso Fred, das Redaktionssystem, schon wieder stockt. Meine Sitznachbarin deutet auf das Internetkabel. Es ist zum wiederholten Mal rausgerutscht. Ich versuche mich zu erinnern, mit welcher Tastenkombination ich das eben ausgewählte Bild in den Artikel einfügen kann, werde aber abgelenkt. Meine Nachbarin erkundigt sich übers Telefon bei ihrem Interviewpartner, wie es um die Meinungsfreiheit in Bolivien stehe. „Seit der Wiederherstellung der Demokratie“, tönt es aus dem Lautsprecher, „hat keine andere Regierung die Meinungs- und die Pressefreiheit so stark beschnitten“. Das klingt nicht gut, denke ich, während meine Finger über die Tastatur irren, auf der Suche nach dem Akzent, den ich über dem Vokal platzieren möchte.

Hashtag: #Pagina7Machista

„Stoppt die Diktatur“: Banner an einem Universitätsgebäude.

Es sind unruhige Zeiten in Bolivien. Und bei „Página Siete“, der Zeitung, bei der ich seit drei Wochen arbeite, ist die Unruhe spürbar. Glaubt man der Regierung, facht „Página Siete“ mit unablässig kritischer Berichterstattung den Unmut an, mit dem die eine Bevölkerungshälfte der Regierung Morales begegnet. Es kommt vor, dass Minister zu Pressekonferenzen laden, bei denen es heisst, „Página Siete“ vertrete „die Interessen der chilenischen Rechten“. Oder: „Página Siete“ schüre die Gewalt gegen Frauen, die in Bolivien erschreckend verbreitet ist. Dazu der Hashtag: #Pagina7Machista.

Die Redaktion sieht darin Diffamierungskampagnen, die sich gegen eine der letzten Bastionen der Pressefreiheit in Bolivien richten. Täglich druckt man über dem Impressum den Verfassungsartikel, in dem die Meinungs- und Pressefreiheit verankert ist, in der Überzeugung, dass die Regierung sich nicht an den Text erinnern kann oder will. Im Logo der Zeitung steht: „Diario Nacional Independiente“, „Unabhängige nationale Tageszeitung“. Unabhängigkeit auf alle Seiten ist das Selbstverständnis. Soweit ich das bisher beurteilen kann, wird es gelebt. Es kommt auch vor, dass der mit der Chefredaktorin befreundete Regisseur, dessen neuer Film gerade in allen Kinos gespielt wird, Prügel bezieht: Er sei kein guter Erzähler, solle beim nächsten Film gefälligst Rat bei begabteren Drehbuchautoren einholen. Und sein Hauptdarsteller habe zwar ein hübsches Gesicht, stolpere aber durch die Szenen wie eine Holzpuppe.

„Die Presse ist die Artillerie der Freiheit“

Dass Bolivien ein gespaltenes Land ist, kann man auch an den Wänden von La Paz ablesen. „Evo Revolutionär“, „Evo ist das Volk“, auf der einen Strassenseite, „Stoppt die Diktatur“, „Evo=Korruption“, auf der anderen. Ich betrachtete die gepinselten und gesprayten Voten an meinem ersten Arbeitstag. Ich hatte mich in einen der Minibusse gequetscht, die aus dem Stadtzentrum talwärts pendeln, wo der Sauerstoffgehalt und der Wohlstand grösser sind. Während der Bus durch den Morgenverkehr schaukelte, pries der Moderator im Radio die Regierung dafür, der lange vergessenen Landbevölkerung den Fortschritt gebracht zu haben.

RedakteurInnen von „Página Siete“ bei der Arbeit.

Das Redaktion befindet sich in einer Villengegend mit hohen Mauern und präzise gestutzten Bäumen. Ich hatte einen Termin bei der Chefredaktorin. Sie entschuldigte sich dafür, zu spät zu sein, sie kam gerade vom Yoga. In ihrem Büro briefte sie mich: „Página Siete“ sei 2010 von einer Gruppe Journalisten gegründet worden, die unzufrieden waren, weil ihre Redaktionen immer stärker mit der Regierung klüngelten. Der Journalismus, den die junge Zeitung seither betreibt, sei darauf ausgerichtet, eine demokratische Kontrollfunktion wahrzunehmen. Im Unterschied zu den meisten Medien lehne man es ab, die grosszügig bezahlte offizielle PR zu veröffentlichen. Das komme bei der Regierung nicht gut an, diese sei der Ansicht, die Medien hätten der „demokratischen Revolution“ zu dienen. 2013 trat der damalige Chefredaktor von „Página Siete“ zurück, um die Zeitung vor Attacken durch Regierungsvertreter zu schützen. Zuvor hatte „Página Siete“ die Position mehrerer Minister zur Abtreibungsfrage falsch wiedergegeben.

Alle zwanzig Sekunden klingelte ihr Handy. Während sie telefonierte, betrachtete ich die van Goghs und die Auszeichnungen an den Wänden. Die Bilder sind gefälscht, die Preise echt. Den letzten gewann die Zeitung 2017 für eine verdeckte Recherche in einem Nationalpark. Die Regierung baut dort angeblich als Gefallen für die Coca-Produzenten eine Schnellstrasse durch ein Gebiet, in dem Indigene leben. Bevor die Chefredaktorin mich verabschiedete, sagte sie: Ich sei in einem entscheidenden Moment nach Bolivien gekommen. Die Stimmung sei so aufgeheizt wie nie in den letzten Jahren. Sie drückte mir ein Buch über Che Guevara in die Hand, das „Página Siete“ herausgegeben hatte. Auf der ersten Seite ein Zitat: „Die Presse ist die Artillerie der Freiheit.“

ParadeteilnehmerInnen ziehen am „Tag des plurinationalen Staates“ am Regierungspalast vorbei.

Der Feiertag des Präsidenten

Einige Tage später wollte ich schauen, wie es um die Laune des Präsidenten steht, auf den „Página Siete“ feuert. Er beging den „Tag des plurinationalen Staates“, der an die Verabschiedung der neuen Verfassung Boliviens im Jahr 2009 erinnert. Es ist auch sein persönlicher Feiertag, der am Jahrestag seiner Amtseinsetzung abgehalten wird. Auf der zentralen Plaza de Murillo fand eine mehrstündige Parade statt. Gewerkschafter, Agrarkooperationen, politische Bewegungen, Indigene zogen um den Platz. Sie tanzten, reckten die Faust, schwenkten die bunte Karo-Flagge des plurinationalen Staates. Soldaten, die wie Teenager aussahen, hielten das Publikum in Schach und trieben die Paradeteilnehmer vorwärts. Auf der Tribüne gähnten Ehrengäste, über den Lautsprecher wurde das neue Bolivien gefeiert: „Unsere Kultur, unser Volk, unsere Flagge, unsere Sprachen!“ Und auf dem Balkon des Regierungspalastes stand der Präsident, Evo Morales, eine Banderole in den Nationalfarben um die Brust gewunden. Er winkte ohne Pause, strahlte. Er wirkte nicht wie ein Diktator, sondern wie ein glückliches Kind an seiner Geburtstagsparty.

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