Nicaragua ist, wenn…

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Auf den Tag genau drei Monate war ich in Nicaragua. Drei Monate, in denen ich viel gesehen und noch mehr erlebt habe. Eine Bilanz in Listenform – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.


Nicaragua ist, wenn…

…die Leute gegenüber dem Fremden so respektvoll auftreten, dass einem fast unwohl ist dabei.

…der Computer auf der Redaktion noch ein Disketten-Laufwerk hat und das Öffnen eines Powerpoint-Dokuments ungefähr fünf Minuten dauert.

…einem in jeder Stadt und sogar auf der Landepiste der Präsident – den man schlicht „Daniel“ nennt – entgegenlächelt und einen an „Solidarität“, „Sozialismus“ und „Christentum“ erinnert.

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…eine eineinhalbstündige Busfahrt quer durch die Stadt nicht einmal zehn Rappen kostet und der Fahrer von seinem eigenen USB-Stick und in Konzertlautstärke Reggaeton laufen lässt.

…die Banknoten aus piekfeinem Feinplastik sind und man sich solche auch zuhause wünscht.

…die Leute um Entschuldigung bitten, wenn sie zwischen zwei Personen hindurchgehen.

…vor dem Club in der Provinzstadt ein gesatteltes Pferd wartet, bis der Besitzer fertiggetanzt hat.

…in einem anderen Club in einer anderen Provinzstadt plötzlich ein Mann mit einem Feuerlöscher auf der Tanzfläche auftaucht und diesen unter dem Jubel der Anwesenden „leert“.

…man ohne jeglichen Kriminalitäts-Zwischenfall in einer gemäss Statistik ziemlich gefährlichen Grossstadt lebt und dafür in der eigenen Wohnung in Bern eingebrochen wird.

…die nie von der Bevölkerung gewählte Frau des Präsidenten, Rosario Murillo, die eigentliche Machthaberin im Lande ist und Entscheidungskompetenzen innehat, die jeden Demokraten erschaudern lassen.

…diese in Managua hunderte rund 20 Meter hohe „Arboles de la vida“ („Lebensbäume“) – aus Metall und mit Leuchtdioden ausgestattet – aufstellen lässt, die nicht nur Ausdruck von staatlicher Geldverschwendung sind, sondern auch kaum jemandem gefallen.

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…Werbung für Haushaltprodukte oftmals nicht auf Plakaten steht, sondern kunstvoll an die Hauswand gemalt ist.

…an jeden Satz „si diós quiera“ („so Gott will“) angehängt wird, sofern die auch nur kleinste Unsicherheit existiert.

eine Redaktionskollegin fristlos entlassen wird, weil sie sich „erfrecht“ hat, eine Agenturmeldung auf der Zeitungshomepage aufzuschalten, welche die offizielle Regierungsversion eines Unfallhergangs in Frage stellt.

… die Bauarbeiten für das 50-Milliarden-Kanalprojekt quer durch Nicaragua noch in diesem Jahr starten sollten, aber kaum jemand wirklich daran glaubt, dass es überhaupt jemals zustande kommen wird.

… man ein Jacket mitnimmt, dieses aber wegen der Hitze nicht ein einziges Mal trägt.

… auf der Redaktion plötzlich Kandidatinnen für die Miss Carnaval 2016 auftauchen und sich dann, nur im Bikini bekleidet, bereitwillig mit dem Gast aus der fernen Schweiz ablichten lassen.

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… man in einer abgelegenen Ortschaft von einer Familie empfangen und beherbergt wird, als sei man ein alter Freund.

… als ÖV-Haupttransportmittel ausrangierte Schulbusse aus den USA herumkurven.

… die Trekking-Organisation offizielle Polizisten in Uniform anheuert, die – in gleicher Anzahl wie die Teilnehmenden – eine zweitägige Wanderung begleiten.

… keine hundert Meter neben der Villen- und Botschaftsgegend ein Armenviertel anfängt, in dem die Bewohner in Wellblechhütten hausen.

… in den letzten Jahren einflussreiche Männer, die Chancen auf die Präsidentschaft gehabt hätten, „Selbstmord“ begingen oder auf eine sonst zweifelhafte Art plötzlich starben.

… man während drei Monaten nicht einen Nicaraguaner sieht, der ein Buch liest.

… bei einer Redaktionskollegin zuhause eingebrochen wird, neben allen Wertsachen auch ihr Hund wegkommt, sie danach eine beispiellose Suchaktion auf allen Social-Media-Kanälen startet und ihn nach 17 Tagen auf diese Weise tatsächlich wiederfindet.

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… die Polizei Überlandstrassen sperrt, damit die Leute aus dieser Region nicht an eine Demonstration in Managua reisen können.

… jeder Unbekannte einem völlig selbstverständlich Gesundheit wünscht, wenn man niesen muss.

… englisch- und sogar italienischsprachige Lieder auf Spanisch übersetzt werden, damit sie radiotauglich werden.

… Taxifahrer den Sicherheitsgurt nur am Tag anlegen – nicht etwa, weil es in der Nacht weniger gefährlich wäre, sondern weil dann die Polizei weniger kontrolliert.

… während des Mittagessens plötzlich der Stuhl arg wackelt und man ob der plötzlichen Ruhe im Saal merkt, dass das jetzt gerade ein Erdbeben war.

… einer der Redaktionsfotografen – Orlando Valenzuela – einige der berühmtesten Revolutionsbilder geschossen hat, die in jedem Souvenirshop als Postkarten zu kaufen sind und er trotzdem die Bescheidenheit in Person ist.

image… der Pfarrer in der Kirche fast zwei Stunden lang sprechen kann, ohne ein Notizblatt zu verwenden.

… man das Gefühl hat, halb Kanada reise gerade durchs Land.

… man als Journalist am Poesiefestival von Granada mehrmals mit den Dichtern verwechselt wird und gar Unterschriften geben muss – weil man eine weisse Hautfarbe und einen Akkreditierungsbadge hat, der fast gleich aussieht.

… jeder Verkäufer auch die einfachsten Rechnungen in den Taschenrechner eintippt.

… ein präsidentiales Dekret dutzende Seiten lang ist und unter anderem ein Gedicht des Nationalpoeten Ruben Darío enthält.

… der „Esprit Entrepreneur“ nicht allzu verbreitet ist – warum mehr oder effizienter arbeiten, wenn es ja auch so reicht?

… die Landepisten von Regionalflughäfen als normale Strassen dienen, wenn sich nicht gerade ein Flugzeug nähert.

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… man das Nationalgericht „Gallopinto“ (Reis mit Bohnen) mit der Zeit nicht mehr sehen kann und dann zurück in der Schweiz doch ein leichtes Verlangen danach verspürt.

… man so viele Eindrücke gewonnen hat, dass diese Liste endlos weitergeführt werden könnte.

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