Schluss mit der Drittwelt-Romantik – der Versuch einer Bilanz

„Have you enjoyed your time in Tanzania?“ Die Frage meines Arbeitskollegen klang harmlos, doch eigentlich erzählt die Antwort darauf die ganze Geschichte meines Aufenthalts. Ich druckste herum, sprach von einer super Erfahrung, schönen Begegnungen, wichtigen Erkenntnissen, aber im Grunde genommen blieb die Grundaussage dieselbe: Von „enjoy“ kann nicht wirklich die Rede sein.

Es war auch jener Moment, in dem ich den Zweck dieser Reise erst so richtig begriff. Ich wollte herausfinden, wie es sich in einem Entwicklungsland lebt. Wie gross ist die Armut? Wie gestaltet sich das Zusammenleben? Und vor allem: Könnte es am Ende gar sein, dass es sich hier insgesamt besser lebt?

Nachdem ich in früheren Blogeinträgen einige Missstände beleuchtet hatte, wurde mir vereinzelt vorgehalten, zu kritisch zu sein. Das Leben (die „Kultur“) sei halt anders dort und lasse sich nicht mit dem Westen vergleichen. Ich dürfe nicht dem Ethnozentrismus verfallen, heisst es von links.

Lustigerweise argumentiert die Rechte so anders nicht, wenn sie weniger Engagement des Westens im Ausland fordert. Das Pochen auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien sei falsch, sagt man dort. Es gebe nun mal gewisse Völker, die mit harter Hand regiert werden müssten. Und überhaupt: Den Leuten gehe es doch gar nicht so schlecht. Man sehe die Kinder doch lachen und die Erwachsenen tanzen. Die Natur dieser Menschen sei nun mal anders. Das Gutmenschentum solle man doch bitte bleiben lassen.

Ich halte diese Drittwelt-Romantik für falsch. In den letzten Wochen habe ich Dutzende von Tansaniern kennengelernt; viele davon leben mit einigen Dollar pro Tag. Kaum jemand beklagt sich direkt über die Armut, zu freundlich und zu zurückhaltend sind die Menschen hier. Doch früher oder später schimmert durch, wie belastend die materielle Not hier ist. Die betagte Frau, die weder weiss, wie alt sie ist, noch ob sie sich erneut Salz leisten kann, wenn die Packung zu Ende ist; die Familie, deren Haus einfach weggeschwemmt worden ist; die Nussverkäuferin, der ich 25 Rappe überreiche, und deren Gesicht voller Erleichterung mir jetzt noch Tränen in die Augen treibt, wenn ich mich zurückerinnere; die junge Frau, die nach einer Typhuserkrankung und einem Spitalaufenthalt vor einem noch grösseren Schuldenberg steht; die Vertreterin der Witwenorganisation, die im Interview in Tränen ausbricht, wenn sie von der Verzweiflung ihrer Mitglieder erzählt.

Manchmal hält man die Armut schlicht nicht aus und gibt jemandem Geld, obwohl man sich geschworen hatte, dies nicht zu tun. Enjoying this? Forget about it. Müsste ich die Lehre meines Aufenthalts in einem Satz zusammenfassen, wäre es wohl dieser: Es ist kein Vergnügen, in einem Entwicklungsland zu leben.

Immer wieder wurde ich von Bekannten gefragt, ob ich ihnen einen Job in der Schweiz beschaffen könne. Wie schwierig es sei, in die Schweiz zu gelangen. Und ob ich sie nicht heiraten wolle. Ja, es mögen illusorische Vorstellungen sein, die viele Leute hier von Europa haben. Doch let’s face it. Wir benutzen Smartphones, wir fahren Autos, wir haben mehrräumige Wohnungen, wir leben in Sicherheit, der öffentliche Verkehr funktioniert, die Behörden arbeiten zuverlässig, vieles ist per Fuss zu erreichen, wir reisen um die ganze Welt, es gibt kulturelle Veranstaltungen zuhauf, wir haben zig Lebensmittel zur Auswahl. Kultur hin oder her: All diese Dinge werden auch in Tansania geschätzt. Wer dies abstreitet, betreibt falsch verstandenen Kulturrelativismus.

Einige in unserer Wohlstandsgesellschaft scheinen vergessen zu haben, wie wichtig materieller Wohlstand für unsere Lebenszufriedenheit ist. Es geht nicht darum, eine Luxuskarosse, eine Villa und eine Golduhr zu haben. Es geht darum, dass man nicht fünf Stunden pro Tag im Stau steckt; es geht darum, dass man sich bei Nacht frei bewegen kann; es geht darum, dass eine Krankheit nicht gleich die Existenz gefährdet; es geht darum, dass man sich einfach in einen Park setzen kann, um ein Buch zu lesen; es geht darum, dass man nicht dutzende Male bei einer Behörde vorsprechen muss, um eine Bewilligung zu erhalten; und es geht auch darum, dass man nicht während sieben Tagen elf Stunden arbeiten muss.

Da das mein letzter Eintrag aus Tansania ist, muss ich noch etwas loswerden, das mich seit Langem beschäftigt und in losem Zusammenhang mit dem Gesagten steht. Es ist der positive Rassismus, den man hier als Weisser tagtäglich erfährt. In den letzten Wochen haben sich zig Telefonnummern, Facebook-Kontakte und Fotos bei mir angesammelt. Unzählige jungen Menschen wollten mit mir ausgehen; riefen mich wiederholt an, um hallo zu sagen; nutzen unsere gemeinsamen Fotos als Whatsapp-Bilder. Mir flogen die Sympathien hier nur so zu.

Ist das nicht wunderbar? Zu Beginn, ja. Doch im Verlaufe der Zeit wurde der positive Rassismus zur Belastung. Nicht nur weil man wie bei jeder Art von Rassismus auf seine Herkunft reduziert wird. Sondern auch weil einem tagtäglich vor Augen geführt wird, wie privilegiert man ist. Manchen Westlern ist das egal und profitieren davon, durchaus auch in sexueller Hinsicht. Mich stimmte das Ganze eher nachdenklich. Man merkt unweigerlich, dass die Welt nicht fair ist. Und man nichts dagegen tun kann.

Ich erinnere mich an eine Szene in einem überfüllten Bus. Aus der Distanz schaue ich einem etwa 25-jährigen Tansanier in die Augen. Er blickt zurück. Für gefühlte Minuten. Wir sprechen kein Wort. Und doch hatte ich den Eindruck, wir dachte dasselbe: Unsere Situation ist so ungleich. Er wird niemals dieselben Chancen haben wie ich.

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