Wenn Grenzen wandern

Die georgische Fotografin Daro Sulakauri besucht seit Jahren Dörfer entlang der Grenzen zu den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien. In den von Russland besetzten Gebieten dokumentiert sie ein Phänomen, das seinesgleichen sucht: Grenzlinien, die sich verschieben. Ein Bericht aus Sicht der Fotografin.

„Wie fühlt es sich wohl an, nicht zu wissen, ob das eigene Haus am nächsten Morgen noch im eigenen Land steht? Für die Menschen an den Grenzen zu den von Russland kontrollierten Regionen Abchasien und Südossetien ist diese Angst eine ständige Realität.

Khurcha-Nabakevi. Der Fluss teilt von Georgien und Russland kontrollliertes Gebiet. Beim Schwimmen überqueren die Kinder manchmal die Grenze. (Foto: Daro Sulakauri)

Schon der Begriff „Grenzen“ ist umstritten. Wir Georgier sagen „Okkupationslinie“, nur die Russen nennen es eine Staatsgrenze. Nach zwei Kriegen sind die Regionen Abchasien und Südossetien nicht mehr unter georgischer Kontrolle. Abchasien sagte sich schon in den 90er Jahren von Georgien los, Südossetien 2008 – mit der Hilfe russischer Truppen. Die Eigenständigkeit der Abchasen und Südosseten haben nur vier Länder anerkannt, im Wesentlichen Russland, das die abtrünnigen Regionen in den beiden Kriegen entscheidend unterstützt und dort Truppen stationiert hat.

Nach dem Krieg von 2008 begann ich, Dörfer entlang der Okkupationslinien auf georgischer Seite zu besuchen. Oft haben die Menschen dort Verwandte auf der anderen Seite, die sie nur mit gültigen Dokumenten und der Erlaubnis der russischen Soldaten besuchen dürfen. Manchmal überqueren sie die Grenze illegal, nachts.

Georgien, kurz vor Dvani. Das Kreuz wurde nach dem Krieg 2008 errichtet, bei dem rund 50 Häuser in Dvani bombardiert wurden. (Foto: Daro Sulakauri)

Aussergewöhnlich ist der Grenzverlauf zwischen Georgien und den von Russland kontrollierten Gebieten. Manchmal besteht die Okkupationslinie aus natürlichen Barrieren wie einem Fluss, in manchen Gebieten stehen Stacheldrahtzäune, viele Grenzabschnitte sind aber gar nicht markiert. Russische und georgische Soldaten bewachen die Okkupationslinie auf beiden Seiten, die Checkpoints stehen aber oft weit auseinander. An vielen Stellen müssen die Bewohner deshalb schlicht wissen, wo die „Grenze“ verläuft. Und manchmal verschiebt sich diese auch – aber immer in die gleiche Richtung, das heisst, die Russen dringen weiter in georgisches Gebiet hinein. Die Grenzen wandern, ein Phänomen, von dem ich sonst noch nirgendwo auf der Welt gehört habe.

Georgien, Khurcha. Nana, 9, und ihre sechs Geschwister leben direkt an der Grenze zur abtrünnigen Region Abchasien. (Foto: Daro Sulakauri)

Die Menschen in diesen Gebieten leben in konstanter Unsicherheit. In einem der Häuser, die ich besucht habe, verläuft der Stacheldrahtzaun quer durch den Hinterhof. Beim Abschied sagte der Besitzer des Hauses zu mir: „Das nächste Mal, wenn du kommst, hat sich die Grenze vielleicht verschoben. Dann lade ich dich im Wohnzimmer nach Georgien ein – und in der Küche nach Südossetien.“

Manchmal, wenn die Grenzen wandern, gelangen die Dorfbewohner auf von Russland besetztes Gebiet, ohne es zu merken. So kann es durchaus passieren, dass sie bei einem Spaziergang von russischen Soldaten festgenommen werden. Dann müssen ihre Familien eine Busse bezahlen, damit sie zurück in ihre Häuser dürfen. 1000 Rubel oder 1200 Rubel, für die Familien eine Menge Geld. Ein Mann erzählte mir, er sei von russischen Soldaten entführt worden, beim Fischen auf georgischer Seite. Die Soldaten hätten ihn einfach auf die andere Seite der Grenze mitgenommen. Ich wollte den Mann fotografieren und er führte mich zu dem Ort, direkt an der Okkupationslinie, in diesem Fall der Fluss. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel. Während ich fotografierte, hörten wir plötzlich Geräusche vom Fluss her und sahen Lichtkegel auf der anderen Seite des Ufers. Wir packten unsere Sachen zusammen, rannten zum Auto und fuhren davon.

Georgien, Tkhaia. Dieser Mann sagt, er sei beim Fischen von russischen Soldaten entführt worden. “They quietly crept behind my back and pointed the gun at my feet telling me to move.” (Foto: Daro Sulakauri)

Je länger ich mich mit diesem Projekt beschäftige, desto mehr Fragen stellen sich mir: Warum können die russischen Truppen die Grenzen einfach so verschieben? Warum unternehmen weder die georgische Regierung noch die internationale Staatengemeinschaft etwas? Warum gibt es ganze Abschnitte, in denen die Okkupationslinie nicht markiert ist? Warum stehen die georgischen Soldaten so weit von der Grenze entfernt? Warum bieten sie ihren Leuten nicht mehr Schutz?

Trotz der unsicheren Lage bleiben die Menschen in diesen Dörfern optimistisch. Sie erzählen mir ihre Geschichten und lachen dann darüber. Solche Erlebnisse lassen meine eigenen Alltagsprobleme klein werden. Ich habe von den Menschen, die ich fotografiert habe, sehr viel übers Leben gelernt. Sie haben mir die Augen geöffnet.

Daro Sulakauri hat mit ihren Fotostrecken diverse internationale Preise gewonnen. Sie lebt in Tbilisi.

Mit meinen Fotos will ich auf die Situation dieser Menschen aufmerksam machen. Die Okkupationslinie zur abtrünnigen Region Südossetien ist weniger als eine Stunde Autofahrt von der Hauptstadt Tbilisi entfernt. Dennoch wissen hier die wenigsten Leute, was dort geschieht. Der Krieg ist erst neun Jahre her und doch scheint er bei vielen Georgiern schon in Vergessenheit geraten zu sein.“

 

 

 

Dieser Text stammt in Auszügen aus einem längeren Portrait über Daro Sulakauri, das im Fotobuch 2018 von „Reporter ohne Grenzen“ erscheint. Einen Videobeitrag über die Fotografin („Georgian Journal“) gibt’s hier.

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