Where have all the tourists gone?

Wie die Berichterstattung der ausländischen Medien die Tourismuskrise in Nepal zusätzlich verschärft.

In meinem Zimmer, am Schreibtisch, da sitze ich.

Gedankenversunken drehe ich an der Spieluhr, die mir B. vor meiner Abreise geschenkt hat. Es ertönt Mozarts «Zauberflöte». Papagenos Arie. «Der Vogelfänger bin ich ja!»

Ich denke an meine Freunde und meine Familie in der Schweiz und in Ungarn. Daran, wie sie mich immer wieder fragen, ob wir hier in Nepal noch zu essen hätten, und ob ich meinen mehrtägigen Ausflug in die Annapurna-Region habe machen können? Meine Antwort ist immer die gleiche: «Die Auswahl in den Restaurants ist etwas geschrumpft, die Transportkosten sind gestiegen, aber es geht mir gut, und ich fühle mich sicher.»

Postkartenansicht des Phewa-Sees bei Pokhara.
Postkartenansicht des Phewa-Sees bei Pokhara.

Was war geschehen? Warum die grosse Sorge um mich im fernen Nepal?

Eine mögliche Antwort findet sich in der Berichterstattung europäischer Medien. Ausgerechnet im «Heute-Journal» des gebührenfinanzierten deutschen Fernsehsenders ZDF, das sich selbst als Qualitätsmedium sieht, gibt ein Professor der Universität Heidelberg zur Hauptsendezeit unwidersprochen seine fatalen Fehleinschätzungen zum „besten“. Von der Stimme aus dem Off wird er dafür gepriesen, dass er erst kürzlich aus Nepal zurückgekehrt und ein profunder Kenner des Landes sei. Zweifel sind angebracht.

Die Aussagen des Professors erwecken den Eindruck, als stehe das Leben in Nepal faktisch still, als würden alle Hunger leiden, als müssten Einheimische, Expats und Touristen gleichermassen draussen auf der Strasse über kleinen, offenen Feuern ihr tägliches Mahl kochen. Kein Benzin, kein Gas, das bedeute auch, dass die Versorgung mit allem anderen alltäglich Nötigem wie Medikamenten und Trinkwasser nicht mehr gewährleistet sei.

Natürlich ist Nepal eines der ärmsten der Welt. Natürlich ist die Armut riesig, viele haben kein Obdach und leiden Hunger. Natürlich verschärft die aktuelle Lage im Terai und die damit verbundene Handelsblockade durch Indien die Situation für Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Nepali. Aber Berichte wie der im ZDF, in dem ein einziger Professor ohne Gegenstimme seine subjektiven Eindrücke (die sich mit meinen nicht decken!) wiedergeben darf, schadet einem Land wie Nepal viel mehr, als dass es nützen würde.

Die Annapurna-Berge; rechts der Machapucharé, das «Matterhorn Nepals».
Die Annapurna-Berge; rechts der Machhapuchchhre, das «Matterhorn Nepals».

Bereits nach den schweren Erdbeben vom 25. April und vom 12. Mai war die Berichterstattung vieler Medien fatal. Fürwahr, viele Bilder waren eindrücklich. Aber es entstand der falsche Eindruck, Nepal sei komplett dem Erdboben gleich gemacht worden. Zweifelsohne waren die Ausmasse katastrophal, die Zahl der Toten, Verletzten und Obdachlosen gross. Und der schleppende Wiederaufbau zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten des Landes und die Grenzen von internationalen Hilfsorganisationen auf. Dass in den Medien allerdings weitestgehend totgeschwiegen wurde, dass die Hauptstadt Kathmandu und touristische Hotspots wie Pokhara und die Annapurna-Region mit einem blauen Auge davongekommen sind, erweist sich für den Tourismus Nepals nun als desaströs.

«Wir haben diesen Herbst im Vergleich zum letzten Jahr noch etwa einen Viertel der Gäste», klagt Sabine Pretsch. Die gebürtige Deutsche und ihr nepalischer Mann führen in der Hauptstadt Kathmandu das kleine Reisebüro „Temba’s Nepal Trek & Expedition“. Es liege in der Natur in der Sache, dass gewisse Leute eher ängstlich und nach Katastrophen wie dem Erdbeben zurückhaltend seien. «Aber die Medien in meiner alten Heimat Deutschland haben mit ihrer Übertreibung in den Berichten über das Erdbeben und dessen Folgen die Branche in eine unangenehme Lage versetzt.»

Mozarts Zauberflöte im portablen Format.
Mozarts Zauberflöte im portablen Format.

Trotz Treibstoffknappheit gelingt es laut Pretsch bisher ganz gut, die gebuchten Touren ohne grössere Probleme durchzuführen. Und der Tourismus sei für ein armes Land wie Nepal unabdingbar. Tatsächlich hat sich der Tourismus in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem wichtigen Wirtschaftszweig entwickelt, zuletzt sogar mit beachtlichen Wachstumszahlen. Nun ist dieses Wachstum nicht nur gebremst, sondern jäh gekappt. Nicht wegen der Erdbebenkatastrophen an sich, sondern vor allem wegen der irreführenden Berichterstattung diverser Medien, die getrieben sind von der Jagd nach besserer Quote, höheren Leserzahlen. Eine knackige Schlagzeile, eine süffige Story ist mehr wert als jeder Wahrheitsgehalt.

Nepal gehört unbestrittenermassen zu den ärmsten Ländern der Welt, beispielsweise was das Pro-Kopf-Einkommen angeht. Es ist aber äusserst reich an kultureller und religiöser Vielfalt. Und die vielen Naturschönheiten suchen ihresgleichen. Als Schweizer kenne ich auch in meiner Heimat viele schöne Orte, wunderbare Seen, hohe Berge. Aber die Dimension und die Wirkung der Natur sind hier um ein vielfaches höher, beeindruckender. Wer schon einmal die Magie des Himalaya auf sich hat wirken lassen, weiss, was ich meine. Umso betrüblicher ist es nun, wenn dieser Tage auch die vielen Shops im Touristenviertel Thamel über ausbleibende Kunden klagen. Wo sonst Besucher Schulter an Schulter sind, herrscht nun meist gähnende Leere. Ein ähnliches Bild bot sich mir letzthin in Pokhara, dem Ausgangspunkt für viele Trekker in die Annapurna-Region: halbleere Restaurants, kaum Verkehr.

In der Madala Street in Thamel/Kathmandu herrscht fehlen die Touristen.
In der Mandala Street in Thamel/Kathmandu fehlen die Touristen.

«Die Ruhe kann auch sehr schön sein», sagt mir der Besitzer eines Lebensmittelladens in Pokhara. Aber für das Geschäft sei es sehr schlecht: «Wir haben viele Nachlieferungen von Lebensmitteln derzeit gestoppt, weil die Nachfrage fast zusammengebrochen ist.» Hinzu komme, dass die nepalesischen Behörden immer wieder die Spielregeln ändern, von einem Tag auf den anderen. Tourenanbieterin Sabine Pretsch: «Erst kürzlich wurden die Anforderungen für Bergbesteigungsgehnemigungen über Nacht geändert. Das macht unserem Business das Leben zusätzlich schwer.» Nach all den Jahren in Nepal wisse man aber, wie damit umgehen, und die Touristen merkten davon häufig wenig bis nichts.

Aber das Beispiel zeigt auf, dass die hiesigen Behörden mehr machen müssten, um den wichtigen Wirtschaftszweig zu pflegen. Nepal müsste nun deshalb alles daran setzen, dass der Wiederaufbau zügig voran geht, dass sich der Handelsstreit mit Indien beilegen lässt und dass die Touristen zurückkommen. Die ersten beiden Punkte werden wohl noch einige Zeit und Kraft in Anspruch nehmen. Aber eine grosse Werbeoffensive auf vielen verschiedenen Kanälen, um wieder mehr zahlungskräftige Touristen ins Land zurückzuholen, liesse sich sehr schnell und unkompliziert umsetzen. Es wären kurzfristige Investitionen, die sich in rasch auszahlen und dem Land auch mittelfristig nützen würden. Handlungsbedarf ist angebracht. Jetzt!

Ich drehe an der Spieluhr. «Der Vogelfänger bin ich ja!»

Dieser Text ist in englischer Sprache in etwas anderer Form am 1. November 2015 in der „Kathmandu Post“ erschienen.

 

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