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Anhang 1Nicht alle Medien halten den Persönlichkeitsschutz gleich hoch. Um das zu sehen, muss man nicht nach Nicaragua gehen. Doch dort treibt die öffentliche Zurschaustellung aber die grässlichsten Blüten.



«Periodismo con valores», also «Journalismus mit Werten», steht gleich unter dem Titel von «El Nuevo Diario» – jener nicaraguanischen Tageszeitung, bei der ich seit Anfang Januar ein befristetes Stage absolviere. Nun, über Werte lässt sich genüsslich streiten, erst recht über die Ozeane hinweg. Um dafür Munition zu erhalten, reicht manchmal ein Blick auf die Titelseite des «Nuevo Diario». Wird man auf der Front nicht fündig, dann mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den hinteren Seiten.

Kaum ein Tag vergeht, an dem sich in unserer Zeitung nicht irgendein mutmasslicher Straftäter mit Bild, vollem Namen und biographischen Angaben wiederfindet. Da wird Adrián Salmerón – ein 24-jähriger Händler aus der Kleinstadt Séboca, der beschuldigt wird, in Costa Rica ein Tötungsdelikt verübt zu haben – auf dem vierspaltigen Frontbild gezeigt. Oder der Taxifahrer Rubén Alberto Marenco aus Potosí, der für seine 39 Jahre schon erstaunlich viele graue Haare hat und des Drogenhandels verdächtigt wird. Die Liste könnte ewig weitergeführt werden.

Immer gilt: Die Männer, ja es sind fast ausschliesslich Männer, sehen auf den Bildern denkbar unvorteilhaft aus. Vor allem aber: Es sind Taten, die sie mutmasslich ausgeführt haben. Kein Richter hat je darüber befunden und auch ein Geständnis liegt nicht immer vor.

Hauptsache keine Kinder

Als ich den hiesigen Chefredaktor darauf ansprach, zuckte er nur mit der Schulter. Solange man keine Kinder zeige und im Text darauf hinweise, dass die Straftäter eben nur beschuldigt und nicht verurteilt seien, sei das kein Problem – weder juristisch noch moralisch. Die Behörden würden jeweils die Zeitung informieren, wann und wo man einen Angeklagten zu sehen bekomme.

Es ist an sich schon problematisch, dass das nicaraguanische Rechtssystem gemäss internationaler Einschätzung westlichen Standards nicht genügt. Man hört, dass bei stockenden Ermittlungen auch schon willkürlich Leute verhaftet worden sind, damit die Polizei einen «Erfolg» vorweisen kann. In solchen Fällen ist es die Praxis der Zeitungen, Verdächtige mit voller Identität zu präsentieren, natürlich besonders perfid – und wirft ein besonders schiefes Licht auf die ethische Befindlichkeit der Medien.

In den USA ist’s nicht besser

Zu einfach wäre es jedoch, diese journalistische Gepflogenheit einfach als Ausdruck von fehlenden juristischen und berufsethischen Regeln abzukanzeln, wie es in einem Entwicklungsland mit schwachen Institutionen halt vorkommt. Auch die USA mit einer langen Rechts- und Medien-Tradition kennen eine durchaus vergleichbare Form davon: Den sogenannten «Perp Walk», wobei «perp» für «perpetrator» (Straftäter) steht. In Handschellen, vorgeführt von grimmig schauenden Polizisten, absolviert der Beschuldigte dabei einen eigentlichen Spiessrutenlauf zwischen filmenden und fotografierenden Medienvertretern. Besonders beliebt ist die Praxis in New York City seit den 1980er-Jahren, wo sich der damalige Staatsanwalt (und spätere Bürgermeister) Rudy Giuliani damit profilieren konnte.

Nun sind aber auch die in den USA öffentlich vorgeführten Personen halt eben keine verurteilten Straftäter, sondern nur Angeklagte. Nicht, dass die Unschuldsvermutung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gelten würde. Nur wird das Interesse der Öffentlichkeit stärker gewichtet als der Persönlichkeitsschutz der Angeklagten. Abgesehen davon, dass eine abschreckende Wirkung auf potentielle Täter erhofft wird, sollen die Medien den Behörden im wahrsten Sinn des Wortes auf die Finger schauen. Auch dann, wenn sich diese an den Oberarm eines Beschuldigten klemmen. Umso mehr gilt das, wenn es sich prominente Persönlichkeiten handelt. Getreu dem Grundsatz: «Vor dem Gesetz sind alle gleich.» Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn kann ein Lied davon singen, die Bilder von seinem «Perp Walk» im Jahr 2011 haben schon fast Ikonen-Status – was in seinem Heimatland Frankreich für empörte Reaktionen sorgte.

Zu Recht, finde ich. Nicht weil DSK besonders schützenswert wäre. Sondern weil Gerichte – was gerade in seinem Fall dann passiert ist – Angeklagte selbstverständlich vom Verdacht freisprechen können. Staatsanwälte können sich, genauso wie Gerichte, irren. Der Schaden, der dem zu Unrecht Angeklagten davor durch den «walk of shame» zugeführt wurde, ist irreparabel – mit dem Internet als ewiges Gedächtnis sowieso. Da hilft auch das Gerichtsurteil gegen Google wenig, dank dem man das Löschen eigener Einträge beantragen darf.

Die Verkehrsopfer zum Mittagessen

In Nicaragua wird die öffentliche Zurschaustellung in den Medien allerdings noch auf eine besonders fragwürdige Art praktiziert. Nicht nur mutmassliche Straftäter werden vorgeführt, sondern auch Opfer jeglicher Art – von Verbrechen, Unfällen oder Naturkatastrophen. Und zwar auf allen Kanälen: In unserer Zeitung wird immerhin noch darauf geachtet, dass das Gesicht von Toten nicht erkennbar ist – das Leichentuch, das den 35-jährigen Rodolfo Andrades bedeckt, der im vom Moisés Alí Rodas Calderón gelenkten Kleinbus verunglückte, durfte der Leser dennoch sehen.

Im Radio konnte man derweil hören, dass der 26-jährige Ronald Ariel Ponce Andrade verhaftet werden konnte. Er habe seine Frau Junieth Cacéres getötet, weil sie ihn mit einem anderen betrügt habe und er ihr zuvor schon zweimal vergeben habe. Nur der Name des Liebhabers fehlte.

Kommt her, ihr niedrigen Instinkte

Am aggressivsten gehen gewisse TV-Stationen vor, insbesondere zwei Regierungssender. Pünktlich zur Mittagszeit werden die Verbrechen und Unfälle der vergangenen Tagen genussfertig aufbereitet, wobei mutmassliche Täter und Opfer aus schamloser Nähe gezeigt werden. Bei Bildern von blutverschmierten Strassenverkehrsopfern bleibt einem da schon mal die frittierte Banane im Hals stecken. Schlimmer aber noch ist, was diese Sendungen bei allzeit bereiten Handy-Kameras in der Bevölkerung auslösen: Sie rufen die niedrigsten Instinkte der Leute hervor – in der Hoffnung, dass es ihre Aufnahmen danach ins Fernsehen schaffen.

Eine Freundin fuhr kürzlich per Zufall bei Matagalpa an einer Stelle vorbei, an der nur wenige Minuten zuvor ein Bus von der Strasse abgekommen war und den Hang hinunterstürzte. Eine erstes Feuerwehrauto war zwar bereits zur Stelle, aber im Innern des Buses waren noch zahlreiche Passagiere gefangen. Und was machten die dutzenden Zaungäste? Sie hielten hemmungslos auf alles mit der Kamera drauf, teilweise aus nächster Nähe. Wie die Polizei später erklärte, wurden in jenem Bus über fünfzig Personen verletzt. Sieben starben.

Dieser Text erschien zuerst als Kolumne auf Medienwoche.ch

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