Der Abstieg in die Arbeitswelt

Mein erster Arbeitstag bei Página Siete. Ich werde hier herzlich empfangen. Alle begrüssen mich mit einem Kuss auf die Wange und mit jedem bin ich gleich per Du. Ich treffe den neuen Direktor der Zeitung, Juan Carlos Salazar, und die Subdirektorin Isabel Mercado, die für die nächsten Wochen auch meine Ansprechperson sein wird und nehme sogleich an der Redaktionssitzung teil.

Die morgendliche Redaktionssitzung.
Blattkritik und Themenbesprechung: Die morgendliche Redaktionssitzung bei Página Siete.

Diese ist zuerst ein wenig chaotisch – einige der Ressortleiter erscheinen erst gar nicht – dann wird ein bisschen planlos in der Zeitung geblättert, kommentiert, gescherzt und mit dem Konkurrenzblatt, der regierungsfreundlichen «La Razón», verglichen. Schliesslich aber schwenken die Journalisten über zu einer seriösen Blattkritik und danach werden die Themen für die nächste Ausgabe diskutiert.

Meine erste Aufgabe ist es, ein Interview zu transkribieren. Es ist das Interview mit einem oppositionellen Politiker. Ich finde es äusserst spannend und es gibt mir einen Einblick in das, was demnächst folgt: Bald startet der Wahlkampf in Bolivien. Evo Morales wird wieder kandidieren und zeigt sich selbstbewusst und zuversichtlich, dass er die Wahlen mit über 70 Prozent der Stimmen gewinnen wird. Die einzige veritable Alternative ist die Partei Movimiento Sin Miedo (MSM). Am Abend begegne ich einer kleine Gruppe Sympathisanten der MSM, die mit Guy-Fawkes-Masken und Plakaten durch die Innenstadt marschiert.

Sympathisanten der oppositionellen Partei MSM demonstrieren in La Paz.
Sympathisanten der oppositionellen Partei MSM demonstrieren in La Paz.

Der MSM werden bis jetzt allerdings wenig Chancen eingeräumt. Die Wahlen sind auf Oktober 2014 angesetzt. Nach dem langen Tag bin ich ein wenig erschlagen. An das spanisch-sprachige Arbeitsumfeld muss ich mich noch gewöhnen.

Abstieg gleich Aufstieg

Die Redaktion ist in der Zona Sur, im Süden der Stadt. Vom Zentrum in La Paz ist das zwar nur etwa eine halbe Stunde. Das heisst, je nach Verkehr und wie schnell man eine Transportmöglichkeit erwischt. Denn oft sind die Minibusse und die Sammeltaxis zu den Stosszeiten voll. Aber die Zona Sur ist eine andere Welt. In La Paz entspricht das geografische Gefälle, dem sozialen Aufstieg. Je weiter südlich, desto wohlhabender die Viertel. Die Zona Sur ist sehr international. Hier gibt es Einfamilienhäuser, Strassen mit weniger Verkehr und viele Cafés und Restaurants mit internationaler Küche sowie Läden mit allen internationalen Marken. Es scheint, als würde man hier alles bekommen.

Mir ist es hier fast schon ein wenig zu geordnet und so freue ich mich jeweils am Abend auf «mein Quartier». Ich mag das Chaos auf den Strassen zwischen Autos und Fussgängern und die Stände die den Strassenrand säumen. Sie sind eine Art Gemischtwarenladen. Ich mag die Mischung und die vielen Farben durch die Indianerfrauen mit ihren traditionellen Kleidern und Hüten, neben den Geschäftsleuten und den Staatsangestellten in Anzug und Krawatte.

Eine Strassenszene im Zentrum von La Paz.
Eine Strassenszene im Zentrum von La Paz.

Frappante soziale Unterschiede

Im «Centro» ist zwar vieles chaotischer, aber auch authentischer. Ich sehe hier nur wenige Ausländer. Es gibt aber auch unschöne, traurige Szenen: Eine ältere Frau wühlt im Abfall und sucht nach Essensresten. Es tut mir weh, das zu sehen und gleichzeitig bin ich wütend auf meine eigene Unfähigkeit, darauf zu reagieren. Soll ich zu ihr hingehen, ihr Geld geben, damit sie sich richtiges Essen kaufen kann? Und dann? Ist das nicht einfach nur ein Tropfen auf den heissen Stein? Und beruhige ich damit nicht einfach mein schlechtes Gewissen über meinen Wohlstand gegenüber dieser Frau? Um meine eigenen Gefühle zu unterdrücken, gehe ich rasch vorbei. Doch das Bild lebt in meiner Erinnerung noch lange nach. Die Frau hat nicht gebettelt, sie versucht sich durchzuschlagen. Plötzlich erscheint sie mir nicht schwach, sondern stark. Mir wird einmal mehr bewusst, wie privilegiert wir sind. Wir müssen nicht für die essentiellen Dinge in unserem Leben kämpfen. Die sozialen Unterschiede in La Paz sind frappant.

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