Ein Land gerät ausser Kontrolle

In Bangladesch brennt es an mehreren Fronten. Vor ein paar Tagen hat sich der Brand in der Tazreen Textilfabrik gejährt, bei dem 112 ArbeiterInnen getötet und 140 verletzt wurden. Und immer noch warten Hinterbliebene und Überlebende auf eine angemessene Entschädigung. Ähnlich präsentiert sich die Situation bei den Opfern vom Rana Plaza Fabrikeinsturz in diesem Frühling. Die Tragödie forderte 1129 Tote und über 2500 Verletzte, von denen viele nicht mehr in einer Fabrik arbeiten können. Sie und ihre Familien verlieren damit ihre Lebensgrundlage und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Trotzdem geben sich die Regierung und viele der westlichen Produzenten zurückhaltend, wenn es um die Zahlung von Entschädigungen geht. Und auch der Schrei nach einer Verbesserung der Sicherheit am Arbeitsplatz ist vielerorts wieder verklungen, ohne dass sich viel geändert hätte. Immerhin konnten die Arbeiter kürzlich einen Teilerfolg erzielen: Der Mindestlohn wird von 39 auf 68 Dollar pro Monat erhöht. Damit steht Bangladesch unter den Ländern, in denen Textilien produziert werden, aber immer noch an letzter Stelle.

Zweitens laufen weiterhin die Verfahren des Kriegsverbrechertribunals, das die Verbrechen während des Unabhängigkeitskriegs von 1971 aufarbeitet. In nur 9 Monaten erreichte Bangladesch damals die Unabhängigkeit von Pakistan. Der Krieg forderte über 300’000 Menschenleben, 10 Millionen Leute wurden zur Flucht gezwungen und unzählige Frauen wurden Opfer einer Vergewaltigung. Obwohl die Ereignisse mehr als 40 Jahre zurückliegen, gehen die Emotionen der Bangladeschis nach den Urteilsverkündungen auch heute noch hoch und lassen sie auf die Strasse gehen. (s. «Todesurteil wird gefeiert»)

Und seit einem Monat steigt die politische Spannung im Vorfeld der Wahlen Anfang Januar kontinuierlich. Die Regierung um Ministerpräsidentin Sheikh Hasina und die Oppositionsbewegung um Khaleda Zia streiten sich um das Wahlprozedere. Bei früheren Wahlen wurde jeweils drei Monate vor dem Urnengang eine neutrale Übergangsregierung gebildet, die dafür sorgen sollte,  dass die Wahlen fair ablaufen. Doch Sheikh Hasina weigert sich vor den Wahlen zurückzutreten. Sie bietet an, stattdessen eine Allparteienregierung zu formen, die die Wahl überwachen soll. Die grösste Oppositionspartei BNP (Bangladesh Nationalist Party) ging nicht auf das Angebot ein und reagiert mit Streiks und Blockaden der Transportwege (Land, Schiene, Wasser). Seit dem 27. Oktober erlebte ich über 20 Hartals (Streiks) oder Blockaden. An diesen Tagen herrscht auf Bangladesch’s Strassen zunehmend Anarchie. Deshalb sind die Leute aufgefordert, zu Hause bleiben. Aber wer kann es sich leisten, die Hälfte des Monats auf die Arbeit zu verzichten? Immer mehr Menschen nehmen deshalb das Risiko auf sich und gehen an Hartaltagen ihren Tätigkeiten nach. Auch ich bewege mich wie an normalen Tagen und fühle mich grundsätzlich sicher. Trotzdem bekomme ich beim Lesen der Zeitung oder durch die News am TV manchmal ein mulmiges Gefühl.

An Hartaltagen sind wir mit besonders gekennzeichneten CNGs unterwegs. Das Pressebanner soll allfällige Angreifer von einer Attacke abhalten.
An Hartaltagen sind wir mit besonders gekennzeichneten CNGs unterwegs. Das Pressebanner soll allfällige Angreifer von einer Attacke abhalten.

Die Attacken werden immer wahlloser ausgeführt. Die Opfer sind meist unbeteiligte Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Busse mit Passagieren an Bord werden während der Fahrt angezündet, Ebenso CNGs (dreirädrige Autorickshaws, die von einem Gitter umgeben sind). Vor ein paar Tagen gingen die Angreifer besonders perfid vor, als sie ein CNG zuerst umkippten und danach anzündenten. Der Fahrer war in seinem brennenden Gefährt gefangen und wurde nur dank dem Einsatz eines Passanten gerettet. Auch Züge sind Ziel der Attacken. In Nacht- und Nebelaktionen werden Schienen oder Weichen entfernt. Entgleisungen sind die Folgen. Einige konnten zum Glück durch die Warnung von lokalen Bauern verhindert werden. Selbstgebastelte Bomben kommen meist bei Aufeinandertreffen von Demonstranten und der Polizei zum Einsatz. Mehrmals wurden aber auch Kinder verletzt, die die Dinger von der Strasse aufhoben, ohne zu wissen, um was es sich dabei handelt. Und vor ein paar Tagen starb eine Frau, nachdem ihr ein Demonstrant eine Bombe an den Kopf geworfen hat… einfach so, grundlos. Anwara Begum, die sich nie politisch engagierte, war auf dem Heimweg von ihrer Arbeit als Köchin, als sie eine Prozession von Demonstranten auf sich zukommen sah. Anwara stand zur Seite, um die Menge durchzulassen…

Das Bild des zerfetzten Schädels von Anwara war selbst für den Daily Star zu viel. Chefredaktor und Verleger des Daily Star, Mahfuz Anam, schrieb in einem Kommentar: «We couldn’t publish the picture. It was just too heart rending, too vivid and too grotesque. It was the picture of Anwara Begum, 40. Part of her brain was blown away by a cocktail directly aimed at her head.»

Damit ein Bild für die Betrachter als unzumutbar eingeschätzt wird, braucht es viel in Bangladesch. Bilder von Menschen mit eingegipsten Gliedern und verbrannter Haut und die von Schmerz und Heulkrämpfen verzogenen Gesichter der Angehörigen, sind täglich in den Zeitungen zu finden. Die Geschichten dazu ähneln sich und immer wieder stellt man sich die Frage, warum und für was? Was haben diese Menschen verbrochen? Warum müssen sie für die machtgierigen, sturen und unfähigen Politiker büssen?

Dieser Bus wurde angezündet, als keine Passagiere an Bord waren.
Dieser Bus wurde angezündet, als keine Passagiere an Bord waren.
Es bleibt nur das Skelett übrig.
Es bleibt nur das Skelett übrig.

Vor ein paar Tagen war ich dabei als 19 Menschen mit Brandwunden ins Spital eingeliefert wurden, nachdem ihr Bus während der Fahrt angezündet wurde. Was ich dort gesehen und erlebt habe, war schockierend. Auf der einen Seiten sind die zum Teil schwerverletzten Opfer und die Helfer, die vom plötzlichen «Ansturm» überrascht werden. (In der Abteilung für Verbrennungen stehen an diesem Abend nur sechs leere Betten bereit. Die Opfer müssen sich deshalb die Betten teilen.) Auf der anderen Seiten stehen die Fotografen und Journalisten sowie Schaulustige.

Die Ärzte und Helfer kümmern sich um die Opfer. Sie schneiden deren Kleider auf, stecken Infusionen, säubern Wunden, tragen eine dicke Schicht Creme auf das offene und verbrannte Fleisch auf und legen Bandagen um. Nach der Erstversorgung werden die Patienten in ein anderes Zimmer verlegt. Schaulustige, Fotografen und Journalisten säumen den Weg dazwischen. Polizisten und Soldaten mit umgehängten Gewehren  und Trillerpfeife sorgen für ein Minimum an Ordnung und schaffen einen Korridor, durch den die Patienten in den nächsten Raum geschleust werden können. An der Tür werden die Medienleute und Aussenstehende zurückgehalten, die Tür selbst bleibt aber offen. Die Fotografen kämpfen mit vollem Körpereinsatz, um den besten Platz unter dem Türrahmen. Einige weichen auf die Fenster auf der Gangseite des Zimmers aus. Ärzte helfen die Vorhänge davor zurückzuschieben, damit eine bessere Aufnahme möglich ist. Erst als ein paar Ausstenstehende (Amran sagt mir später, dass es sich dabei um Anhänger der Regierungspartei gehandelt hätte) den Raum betreten, wird es dem Pflegepersonal zu viel. Sie verscheuchen alle, die sich im und vor dem Raum versammelt haben. Das wiederum verärgert die Fotografen, die sich in der Ausübung ihres Jobs verhindert fühlen. Plötzlich artet die Situation aus. Fotografen, Helfer, Soldaten  und Aussenstehende schreien sich an und werden teilweise sogar handgreiflich. Ich werde in eine Ecke gedrückt, aus der es keinen Fluchtweg gibt. Mit meinem Hinterteil und Rücken stosse ich gegen etwas Hartes. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass es eine Abfalltonne ist, die mit blutigen Bandagen überquillt. Ich weiss, es tönt in dieser Situation oberflächlich, aber mein erster Gedanke war: «Oh nein, ausgerechnet heute, wo ich zum ersten Mal meinen schönen neuen Salwar Kameez angezogen habe.» Der Tumult hält einige Minuten an und ich hoffe inständig, dass mich der Mob nicht erdrückt oder einer der Soldaten, die Kontrolle verliert und zu schiessen beginnt. Doch nichts dergleichen passiert.

Später als wir das Spital verlassen, treffen Amran und der Cheffotograf von New Age, Sanaul Haque, auf ihre Widersacher. Beide Seiten machen nochmals lautstark ihren Standpunkt klar, bevor sie sich die Hände schütteln, sich umarmen und auf die Schultern klopfen. Während die meisten Leute bei uns nach einem solchen Streit noch tagelang schmollen, ist die Sache hier mit dieser Geste vergessen und vergeben.

Später spreche ich mit Amran über das Erlebte. Er ist seit 23 Jahren im Business und hat in Bangladesch schon viele solche Tragödien miterlebt und mit der Kamera festgehalten. Für ihn und die anderen Fotojournalisten sind es die Höhepunkte eines Arbeitstags. Es sind jene Bilder, die die Bildredaktoren von den Fotografen fordern und die die Leser (angeblich) sehen wollen. Amran sagt, dass er, wenn er eine Kamera umgehängt habe, in erster Linie Fotograf und erst danach Mensch sei. Sieht er irgendwo einen Verletzten, ist sein erster Impuls ein Bild davon zu machen. «Das ist mein Job. Dem Opfer zu helfen hingegen, ist der Job von Ärzten, die dafür ausgebildet sind. Damit habe ich nichts zu tun.» Amran ist ein sehr hilfsbereiter und witziger Kollege. Ich mag ihn deshalb sehr. Sein Beruf und die Situation in Bangladesch haben ihn über die Jahre aber wohl abgehärtet und auch einen gewissen Frust zurückgelassen. Einmal hat er mir nämlich anvertraut, dass von seinen Idealen und Träumen am Anfang seiner Karriere nicht mehr viel übrig geblieben ist. Damals dachte er noch, dass er durch seine Bilder in seinem Land etwas zum Guten bewegen könne. Heute glaubt er nicht mehr daran. « Nichts ändert sich in Bangladesch. Und ich glaube niemandem mehr, egal ob Regierung oder Opposition. Es sind alles Lügner und Kriminelle.» Ähnliches höre ich auch von den anderen Fotografen und Reportern des Daily Star. Es scheint als ob die Stimmung durch die brutalen und willkürlichen Attacken und die verfahrene Situation zwischen der Regierung und der Opposition  in den letzten Tagen gekippt ist. Resignation und Frust nehmen Überhand. Leider werden die meisten Konversationen im Büro in Bangla geführt. Bitte ich um eine Übersetzung fällt diese meist sehr knapp aus. Cheffotograf Enam bringt es so auf den Punkt: «Im Moment ist in Bangladesch alles schlecht.» und Mahfuz Anam schreibt am Schluss seines Kommentars: «We condemn this politics and express our disgust, anger and total hatred of it. We want to shun this orgy of death and violence in the name of politics. We are sick to the core and are at the very end of our patience for the present immoral, vulgar, brutal, self-serving and destructive politics. This cannot be democracy.»

Doch wer verübt die Anschläge? Die Regierung schiebt die Schuld auf die Anhänger der Oppositionspartei. Die wiederum behauptet, dass in Wahrheit die Regierung selbst hinter den Attacken steckt und sie so bloss Stimmung gegen die Opposition machen will. Unschuldig sind beide Parteien nicht. Weder die regierende Awami League noch die Oppositionspartei BNP und ihre Verbündeten sind bereit Kompromisse einzugehen. Sie beharren stur auf ihren Positionen und nehmen in Kauf, dass währenddessen unschuldige Menschen verletzt und getötet werden und die Wirtschaft leidet.

Die Strassen rund um die Moghbazar Kreuzung sind leergefegt.
Die Strassen rund um die Moghbazar Kreuzung sind leergefegt.
Moghbazar Kreuzung: Hier steht normalerweise der Verkehr still.
Moghbazar Kreuzung: Hier steht normalerweise der Verkehr still.
Die Polizei im Dauereinsatz: Wenn es ruhig ist, langweilen sich viele von ihnen.
Die Polizei im Dauereinsatz: Wenn es ruhig ist, langweilen sich viele von ihnen.
Die Leute informieren sich durch die an Wänden ausgehängten Zeitungen über das aktuelle Geschehen.
Die Leute informieren sich durch die an Wänden ausgehängten Zeitungen über das aktuelle Geschehen.
Studenten vor ihrer Schule: Ihr Examen musste wegen den Streiks mehrmals verschoben werden.
Studenten vor ihrer Schule: Ihr Examen musste wegen den Streiks mehrmals verschoben werden.

So schlimm das Leben in Dhaka jetzt tönen mag, so wenig merkt man davon im Alltag. Natürlich gibt es Anzeichen. Wer weiss, wie vollgestopft die Strassen in der Hauptstadt normalerweise sind, realisiert, dass etwas nicht stimmt. Zudem fällt die erhöhte Polizeipräsenz  und die vielen geschlossenen Läden auf. Und ja, manchmal habe ich die News aus den Medien im Hinterkopf, wenn ich ein CNG oder einen Bus besteige oder mit der Rickshaw einen Umzug von Demonstranten kreuze.

Als ich zudem vor rund zwei Wochen mit der Rickshaw zu einem Fotolabor in Purana Paltan fuhr, wo auch das Hauptbüro der Oppositionspartei BNP liegt, gingen auf einer rund 50 Meter entfernten Kreuzung ein paar Bomben hoch. Erst ertönt ein paar Mal ein dumpfer Knall, danach steigt Rauch auf. Fahrzeuge und Menschen, die wie ich in Richtung Kreuzung fuhren, machen sofort rechtsum kehrt und flüchten in die entgegengesetzte Richtung. Mein Rickshawfahrer hält an und schaut zu mir zurück. Seine Handbewegung und sein Gesichtsausdruck scheinen zu fragen: «Willst du wirklich dorthin?». Ich sage ihm, dass das im Moment wohl keine gute Idee ist und deute ihm umzukehren. Er fährt mit mir in eine kleine Seitenstrasse, wo wir etwa drei Minuten warten, bevor wir das Fotolabor durch eine Hintergasse erneut anfahren.

Klar überlege ich mir in diesem Moment: «Was, wenn ich das Haus eine Minute früher verlassen hätte?» Aber verrückt machen, lasse ich mich davon nicht.

Der Anschlag auf der Purana Paltan Kreuzung hat, soweit ich weiss, keine Opfer gefordert. Als ich zwei Stunden später darüber fahre, ist ausser den Scherbenhaufen am Boden nichts mehr zu sehen. (Leider konnte ich von diesem Ereignis keine Bilder machen, da ich zu jener Zeit kameralos war… die Gründe dafür findet ihr hier: «Pechsträhne in Lalmonirhat»).

Das Leben in Bangladesch bleibt also weiterhin spannend. Trotz aller Schwierigkeiten liebe ich es und vertraue auf mein Glück… Glück, wovon ich mehr habe, als viele Menschen hier. Ich bin zwar durch die Sreiks in meiner Bewegungsfreiheit und Arbeit etwas eingeschränkt, das sind aber verglichen mit jenen der Einheimischen kleine Sorgen. Am meisten unter den Unruhen leiden einmal mehr die Armen. Es sind Tagelöhner, die vergeblich auf Jobs warten, weil momentan Vieles stillgelegt ist. Bauern, die auf ihren Lebensmitteln sitzen bleiben, da es keine Transportmöglichkeiten zu den Märkten in der Stadt gibt. Es wird zum Beispiel geschätzt, dass pro Hartaltag fast eine halbe Million Liter Milch sauer wird oder weit unter dem normalen Preis verkauft werden muss. Eine solche Verschwendung in einem Land, wo viele Leute kaum genug zu essen kriegen, ist paradox.

Tagelöhner stranden am Kamalapur Railway Station. Da es in der Stadt momentan keine Jobs gibt, versuchen sie in ihre Dörfer zurückzukehren. Wegen der Blockade fallen jedoch viele Züge aus.
Tagelöhner stranden am Kamalapur Railway Station. Da es in der Stadt momentan keine Jobs gibt, versuchen sie in ihre Dörfer zurückzukehren. Wegen der Blockade fallen jedoch viele Züge aus.

07_anarchie_DSC4501

08_anarchie_DSC4506

04_anarchie_DSC4479

06_anarchie_DSC4488

Die Leute stehen am Kamalapur Railway Station an, um die Tickets von Zügen zu retournieren, die wegen der Blockade ausfallen.
Die Leute stehen am Kamalapur Railway Station an, um die Tickets von Zügen zu retournieren, die wegen der Blockade ausfallen.
So leer sind die Perrons am Kamalapur Railway Station selten.
So leer sind die Perrons am Kamalapur Railway Station selten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert