Handyklaus, Gewalt an Frauen und die erste Reportage

In den grossen Städten Perus gibt es einige Regeln, die zu beachten sind: Dein Handy versenkst du – wenn immer möglich – so tief es nur geht in die Hose. Draussen bist du aufmerksam, hast alle Sinne aktiviert. Und du meldest dich, wenn du nachts zu Hause angekommen bist.

Die Reportage von Fiorella Azaña und mir in der Printausgabe von La República (Online-Link siehe unten).

«Dieses Viertel ist ziemlich hart, ich will dich hier lieber nicht allein rauslassen», sagt mein Taxi-Fahrer. «Ich weiss. Meine Freundin kommt mich gleich abholen. Wenn wir kurz hier warten können, ist das super.» Winny hat noch vor meiner Ankunft geschrieben, ich solle im Auto bleiben, bis sie kommt. Wir sind in Chacaritas, einem Viertel in Callao, der Hafenstadt direkt neben Lima.

Winny und ich kennen uns durch eine Freundin in der Schweiz. Seit ich in Lima bin, haben wir viel zusammen unternommen, waren oft Essen, haben das Meer in den gehobeneren Stadtvierteln Miraflores und Barranco besucht, sie war bei mir zu Hause. Nun zeigt mir Winny ihre Stadt, ihr Viertel. Sie will mit mir zur Punta, dem äussersten Zipfel Festland, der ins Meer hinausragt. Immer, wenn Winny dieses Wort «Punta» sagt, strahlt ihr heiteres Gesicht noch etwas mehr.

Irrwege im Taxi

Da kommt sie schon. Ich bedanke mich bei Julio fürs Warten und steige aus. «Man ey, wo hast du dich wieder hin chauffieren lassen?», fragt Winny. Ich habe bei Uber zunächst ein falsches Ziel angegeben, einen anderen Punkt, nicht weit von hier entfernt. Derselbe Name, einfach eine andere Kreuzung. Mir ist schon einmal so ein Uber-Missgeschick passiert, als wir zusammen unterwegs waren. Ich muss etwas lachen: «Du bist nervös geworden, gell. Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast.»

Wir gehen kurz ins Haus, um meine Gitarre zu deponieren. Hier ist Winny mit neun Halbgeschwistern aufgewachsen, zwei von ihnen sind in jungen Jahren gestorben. Viele der Geschwister leben nach wie vor im Viertel, haben jetzt selbst Kinder. Winny liebt sie alle. Nur mit ihrem Vater hat sie nichts am Hut. Er ist nach ihrer Geburt weggegangen, wollte nie etwas von ihr wissen. Manchmal sieht Winny ihn an Familienfeiern, aber sprechen tun die beiden nicht miteinander. Ich sehe nur einen Bruchteil vom Haus, aber klar ist: Der Gürtel sitzt eng.

Winny an einem Sonntag am Meer in Barranco.

Aufstrebende Wirtschaft

Peru hat in den letzten Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Das BIP-Pro-Kopf ist von 1’880 USD im Jahr 1994 auf 8’452 USD im Jahr 2024 gewachsen – eine Vervierfachung. Aber längst nicht alle haben von diesem Aufschwung profitiert. Laut Zahlen der Weltbank lebt nach wie vor über ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das soziale Ungleichgewicht im Land ist beissend. In Städten wie Lima und Callao ist das besonders gut sichtbar. Da gibt es glänzende Villen an einem Ort, andernorts sehen die Strassen geradezu apokalyptisch aus: verlotterte Gebäude und kaputte Autos, darüber eine zentimeterdicke Schicht Staub und Abgaspartikel, der Müll sammelt sich.

In Chacaritas sind die Strassen ganz in Ordnung, es gibt weniger Verkehr als im Zentrum von Lima. Alles wirkt ruhig, scheint nicht so, als würden viele Leute flanieren. «Warum ist es hier gefährlich?», frage ich Winny banal. «Es gibt Banden, die sich untereinander bekriegen. Manchmal geraten halt auch Leute in diese Kämpfe, die eigentlich nichts damit zu tun haben.» Es geht um Drogen, Erpressungen, sonstige illegale Geschäfte. Vielleicht bilde ich mir das ein, aber hier hängt schon etwas in der Luft. Ich will unauffällig ein Foto machen und greife in meine Hosentasche, Winny reagiert sofort: «Was machst du?» «Kann ich ein Foto schiessen?» Sie lacht: «Also mach.»

Das einzige Foto, das ich in Chacaritas geschossen habe.

Versuchter Handyklau

Weder in Callao noch in Lima sollte man mit dem Handy in der Hand herumlaufen. Kriminelle haben es besonders auf die Geräte abgesehen, die Diebstähle haben Struktur. Kürzlich habe ich einen versuchten Raub beobachtet, direkt vor meiner Haustür. Neben mir stand ein Typ, er tippte etwas auf dem Screen herum, wir haben auf die grüne Ampel gewartet. Ein Rollerfahrer kam die Strasse heruntergebrettert, näherte sich immer mehr dem Randstein und zack, griff während des Vorbeifahrens nach dem Handy des Mannes. Dieser hielt es genug stark fest – Glück gehabt.

Handys sind also ein Ding hier, aber es scheint kein Problem zu sein, mit einer Kamera durch das Zentrum von Lima zu gehen. Auch nicht, wenn sie 5’000 Franken kostet. Das dachte ich letztens, als ich mit Fio eine Strassenumfrage gemacht habe. Wenn wir draussen unterwegs sind, mache ich mich jeweils noch etwas grösser, als ich sonst schon bin – und tue so, als würde ich seit Jahrzehnten hier arbeiten. Auf den Strassen von Lima sind alle Sinne gefragt, auch im Verkehr. Ich manövriere täglich mit einem E-Trottinett durch die Stadt und gebe mir dabei alle Mühe, nicht umzukommen.

Machísmo

«Wenn ich fahre, sagen sie: ‹Geh zurück in die Küche! Da ist sicher eine Frau am Steuer! Du hast keine Ahnung, bist viel zu langsam›», Rosario ist Taxifahrerin in Lima. Wir porträtieren sie und drei weitere Frauen für eine Reportage zum internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Nach diesem Dreh achte ich mich zwei Tage lang, wie viele Frauen ich am Steuer sehe: genau eine. Frauen fahren kaum Auto in Lima. Und Taxifahrerinnen gibt es erst recht wenige. Auch Rosario arbeitet nicht als gewöhnliche Taxifahrerin, sondern für eine Organisation, die Transporte speziell für Frauen und Kinder anbietet. Passagiere sowie Fahrerinnen sind registriert und werden einer Prüfung unterzogen – so sollen alle Beteiligten sicher sein.

Jakelin García Geldres ist eine weitere Protagonistin unserer Reportage zum Thema Machísmo.

Psychische und physische Gewalt gegen Frauen ist in Peru leider Alltag. 2024 wurden 154 Femizide im Land gezählt, das ist ein Femizid auf 100’000 Frauen. Der häufigste registrierte Grund: Eifersucht. Diese Gewalt an Frauen hat ihren Ursprung im Machísmo – der Macho-Kultur. Natürlich sind längst nicht alle Typen in Peru Machos, gerade auf der Redaktion habe ich viele progressive Männer kennengelernt, denen die Rechte der Frauen im Land am Herzen liegen. Gleichzeitig erzählen mir Freundinnen, wie sie auf offener Strasse begrapscht werden, wie sie sich unter schwierigen Bedingungen allein um ihre Kinder kümmern, wie sie niemals nachts ohne Begleitung aus einem Club spazieren und auf ein Taxi warten würden.

Die Latinas haben eine dicke Haut. Sie beeindrucken mich mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer fröhlichen Art, ungeachtet all der Umstände. Für Winny sind die Bedrohungen im Viertel kaum der Rede wert. Alltag halt, man gewöhnt sich daran. Sie spricht lieber über das Skaten, Fussballspielen, über Reisen und das Essen in Peru – die schönen Dinge im Leben. Als wir bei der Punta angekommen sind und den kolonialen Gebäuden am Strand entlangspazieren, wo die betuchteren Leute in Callao leben, sagt Winny: «Es ist schön, aber wohnen möchte ich hier nicht. Ist mir zu weit weg von allem.»

Winny und ich bei der Punta.

Die Videoreportage zum internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wird am 25. November auf dem Youtube-Kanal von La República publiziert, der Artikel dazu auf der Webseite und in der Printausgabe.

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