The Good, the Bad and the Doubt

Es ist halb sechs Uhr abends und in Kathmandu gehen die ersten Lichter an. Unter das Rauschen und Hupen der vorbeifahrenden Autos und Motorräder mischen sich Hundegebell, das Krähen von Vögeln und Kinderlachen. 

Auch am Samstagnachmittag spielen die Kinder mit der Schaukel. (Foto: Ayse Turcan)

Von meinem Balkon in dritten Stock sehe ich auf einen kleinen geteerten Sportplatz, auf dem fünf Jungs Basketball spielen. Rechts davon befindet sich eine mehr oder weniger grüne Fläche, wo tagsüber immer Leute Seile spannen und Wäsche zum Trocknen aufhängen. Vermutlich sind es Mitarbeitende einer Wäscherei. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Person oder Familie so viele weisse Laken besitzt. In diesem Moment versucht hier eine Gruppe Jungs mit mässigem Erfolg, einen roten Drachen steigen zu lassen, während sich ein paar Mädchen im hinteren Teil des Platzes um eine Schaukel versammelt haben. Die Schaukel ist aus Bambus-Rohren gebaut und mit farbigen Fähnchen verziert. Solche Schaukeln sieht man in diesen Tagen auf zahlreichen Grünflächen in der Stadt. Sie werden anlässlich des Festes «Dashain» jedes Jahr in Wohngegenden aufgebaut. 

Dashain gedenkt des Sieges des Guten

Dashain – das ist eines der wichtigsten der zahlreichen Feste, die in Nepal gefeiert werden. Gedacht wird dabei des Sieges der Göttin Durga, einer Erscheinungsform von Devi, Mutter aller Götter, über den Dämon Mahishasura. Einfach gesagt: des Sieges des Guten über das Böse. Das Hindufest dauert eine ganze Woche und wird traditionell mit der Familie verbracht, weshalb viele Einwohner:innen Kathmandus vergangenes Wochenende in andere Städte und Dörfer fuhren. Rund 400’000 Menschen sollen laut Medienberichten die Stadt verlassen haben. Also fast die Hälfte der 1.1 Millionen Einwohner:innen. Das erklärt vielleicht, weshalb die Stadt ruhig und entspannt wirkt. 

Wie es hier sonst aussieht und klingt, weiss ich allerdings nicht aus eigener Erfahrung, denn ich bin erst vor etwas mehr als 48 Stunden in Nepal angekommen. Definitiv voller und lauter sei es, habe ich mir sagen lassen. Es ist also wohl ein perfekter Zeitpunkt, um anzukommen und die vielen neuen Eindrücke sacken zu lassen. Neue Eindrücke gibt es tonnenweise: Hindutempel und buddhistische Bauwerke, Newari Architektur, Momos und Dhal, Linksverkehr und im touristischen Viertel ein Outdoorshop nach dem anderen und erwartungsgemäss viele Tourist:innen. Mindestens bis am Montag bin auch ich einfach Touristin. 

Und danach? Mal schauen. Am Montag beginne ich meine Stage bei der Kathmandu Post. Organisiert wird diese durch das Institut für Journalismus und Kommunikation (MAZ) in Zusammenarbeit mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Vor meiner Reise habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich eigentlich zu Entwicklungszusammenarbeit stehe – denn immerhin bezahlt das DEZA mindestens teilweise meinen Aufenthalt hier.

Entwicklungszusammenarbeit und dessen Perspektiven

Entwicklungszusammenarbeit, das hiess früher Entwicklungshilfe, wurde dann aber umbenannt, weil im Wort Hilfe Überlegenheit impliziert ist, und diese schon in der Sprache sichtbare Hierarchie vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie von Akteur:innen zunehmend als untragbar erachtet wurde. Doch Hierarchien verschwinden natürlich nicht einfach mit einem neuen Begriff.

Ich habe mich bisher nie tiefgehend mit diesem Konzept beschäftigt und begegnete ihm vor allem mit viel Skepsis, ja ehrlicherweise sogar mit Ablehnung. Der paternalistische Charakter der Idee, anderen Ländern dabei zu helfen, pardon, sie dabei zu unterstützen, sich zu entwicklen, nach dem Vorbild des „Westens“, und dann „Entwicklung“, die wiederum von der Maxime des Wachstums nicht zu trennen ist… All das sehe ich kritisch. Aber meine Sichtweise mag genau so eurozentristisch sein wie diejenige, die ich kritisiere. 

Wie sehen das die Einwohner:innen eines Landes, dem seit über 60 Jahren „geholfen“ wird und dessen Staatsbudget 2017/2018 laut eines UN-Berichts zu fast einem Viertel aus ausländischen „Hilfsgeldern“ bestand? Und Geld ist dabei nur ein Teil der Unterstützung, die das Land erhält. Shiva, der mich gestern durch die Stadt führte, meinte, viele Gebäude, die während des verheerenden Erdbebens 2015 zerstört wurden, seien mit Hilfe ausländischer Gelder und Projekte wieder aufgebaut worden. Allerdings waren nicht nur „westliche“, sondern beispielsweise auch chinesischen Organisationen involviert. Shiva klang jedenfalls nicht unglücklich, während er erzählte. Doch es gibt mit Sicherheit auch andere Stimmen. Auf der Suche nach entwicklungskritischen Positionen unter nepalesischen Wissenschafler:innen stiess ich rasch auf Nanda Shrestha. 

Shrestha wuchs in Nepal auf und ist heute Geograph und Professor für Weltressourcen und Kulturmanagement in Florida. Er verfasste in den 90er und 2000er Jahren verschiedene entwicklungskritische Beiträge, die sich auf Nepal bezogen. In einem besonders eindrücklichen Text verbindet er postkoloniale Ansätze mit seiner eigenen Biographie. In „Becoming a Development Category“ erinnert er sich an einen bestimmten Dashain in seiner Kindheit, also das Fest, das in diesem Moment gerade in Nepal stattfindet. Shrestha beschreibt, dass das Fest nicht nur ein religiöses ist, sondern auch viel mit Status zu tun hat. „There is immense pressure on every family, rich and poor, to celebrate the festival with as much pomp and show as possible. Parents are expected to get brand new clothes and other material items for their children.“ 

Shresthas Dashain

Shresthas Familie war nicht nur arm, sondern sehr arm. „Life was always hand-to-mouth, a constant struggle for survival. It was not unusual at all for me to go to school hungry, sometimes three or four days in a row.“ An diesem Dashain hatte die Familie keine Möglichkeit, neue Kleider zu kaufen oder ein Tier zu opfern. Am neunten Tag des Festes erhielt Shrestha schliesslich ein bisschen Geld von seinem Schwager, mit welchem das Fest einigermassen gerettet werden konnte. Und doch resümiert Shrestha: 

„Even today, the memory of that Dashain brings tears to my eyes.“ Was das nun alles mit „Entwicklung“ zu tun hat, beschreibt Shrestha im folgenden Absatz: 

„To my innocent mind, poverty looked natural, something that nobody could do anything about. I accepted poverty as a matter of fate, caused by bad karma. That is what we were repeatedly told. I had no idea that poverty was largely a social creation, not a bad karmic product. Despite all this, it never seemed threatening and dehumanizing. So, poor and hungry I certainly was. But underdeveloped? I never thought – nor did anybody else – that being poor meant being ‚underdeveloped‘ and lacking human dignity.

Ich lasse das für den Moment so stehen. Fest steht, dass ich dieses Thema erforschen möchte, während ich hier bin. Und dass ich mit möglichst vielen Nepales:innen darüber sprechen will. 

In der Zwischenzeit ist längst der Mond hinter einer grossen Wolke am Himmel hervorgetreten und bereits wieder verschwunden. Morgen ist Vollmond, der das offizielle Ende von Dashain markiert. Morgen, das ist Samstag der 28. Oktober 2023. Nein falsch, hier in Nepal ist morgen der 11. Oktober 2080. Die Nepali haben einen eigenen Kalender, der dem Mondkalender angepasst ist. Am Montag kehren viele zurück in die Stadt und das normale, mir noch unbekannte, geschäftigere Treiben sollte wieder einkehren. Mal sehen, was die Zukunft bringt.

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