Vergangenheit und Sprache – eine persönliche Annäherung
Ich sehe Liqas Lächeln nur verschwommen. Sie hält mir ein Kärtchen vor. Kinder sind darauf abgebildet. Sie gehen in die Schule. „Madrasa“, erwidere ich. Und weil Liqa das Kärtchen weglegt, und ich ihr Lächeln nun klarer erkenne, merke ich, dass ich korrekt übersetzt habe.
Für Liqa und mich ist dies bereits zum Ritual geworden. Bevor ich nämlich auf die Redaktion der Jordan Times gehe, sitze ich täglich während zwei Stunden bei ihr und lerne im Misbah Center Arabisch.
Ich mache kleine Fortschritte. Sehr kleine. Wirklich sehr kleine. Denn ich kann nicht genug betonen, wie schwierig diese Sprache ist. Und doch stand es für mich vom Moment an, als ich die Zusage für die Stage in Jordanien erhalten habe, nie zur Debatte, auf Arabisch-Lektionen zu verzichten. Denn wem es gelingt, sich in einem fremden Land mit der dortigen Sprache zu verständigen, dem eröffnen sich einzigartige Zugänge – und nicht selten auch die Herzen der Menschen. Kurz: Liqas Geduld hilft mir, die Welt hier besser zu verstehen – und macht mich letztlich zu einem besseren Journalisten.
Hinzu kommt, dass sich mir mit jedem noch so kleinen Fortschritt die Schönheit dieser Sprache mehr offenbart. Nehmen wir Liqas (لـِقـاء) Namen. Die zutreffendste deutsche Übersetzung wäre wohl „sich in Liebe zu treffen“. Dieses Konzept der Liebe muss nicht zwingend romantisiert sein. Vielmehr symbolisiert es eine Art tiefes Vertrauensverhältnis – ein Treffen mit seinen Eltern, Geschwistern oder Freund:innen fällt ebenso in die Namensbedeutung wie eine Umarmung zwischen Liebenden. Diese sprachlichen Ausschmückungen lassen einen spielerischen Umgang miteinander zu. Und sie sind allgegenwärtig. So kommt es durchaus vor, dass man mir vor dem Manakish-Stand um die Ecke „hundert Blumen“ wünscht.
Versöhnliche Sprache, verletzende Sprache
Doch es gibt noch einen dritten Grund, wieso ich gerne zu Liqa gehe. Sie erinnert mich an wichtige Menschen, die mir in meiner Kindheit geholfen haben. Geboren mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, verbrachte ich Jahre damit, die Laute zu lernen, die einem Kind normalerweise (Aber: Was ist schon normal?) problemlos über die Lippen kommen. Logopädie ist zwar Knochenarbeit, findet gleichzeitig aber in einem Vertrauensverhältnis statt, in dem Verletzlichkeit Raum erhält. Letztlich waren all die Sprachtherapien fruchtbar für mich. Sie eröffneten mir die Möglichkeit, mich mitzuteilen, verstanden zu werden und in den Dialog zu treten.
Sprache war für mich schon immer intim. Sie kann heilen, Annäherungen und Barrieren verschwinden lassen. Sie kann aber ebenso verletzen, isolieren und Hass schüren. So sehr mich die Arabisch-Lektionen bereichern, so sprachlos machen mich denn auch die Hoffnungslosigkeit, Trauer und die Wut, die ich hier erlebe. An dieser Stelle möchte ich betonen: Mir ist bewusst, dass ich mich in einer privilegierten Position befinde. Ich bin in einer sicheren und wohlhabenden Schweiz aufgewachsen. Meiner Meinung nach steht es mir nicht zu, in dieser neuen Eskalation des Nahost-Kriegs in Aktivismus zu verfallen.
Dennoch lässt es mich nicht kalt, mit welch verletzender Sprache man hier teilweise konfrontiert wird. Ich kann in jedem Buchladen, den ich hier in Amman besucht habe, die unkommentierte Version von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ kaufen. Ich lese antisemitische Sprüche in Cafés, Restaurants oder auf T-Shirts. Ich sehe Abbilder von David-Sternen auf den Strassen, teils geklebt, teils gesprayt. Einladend, daraufzutreten.
In einem Buchladen frage ich den Verkäufer, welches Werk seiner Meinung nach den Konflikt zwischen Israel und Palästina anschaulich erkläre. Er drückt mir „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in die Hand. Zur Erklärung: Der Inhalt des Buchs ist eine nachweislich erfundene jüdische Weltverschwörung und antisemitische Schmähschrift, die unter anderem die Nationalsozialisten in Deutschland zur Legitimation des Holocaust verwendet haben. Überrumpelt von seiner Unverblümtheit, schiebe ich den Gedanken, was Spaltkindern während jener dunklen Zeit widerfahren ist, weit weg von mir.
Zeit und Wunden
Ich höre zu, wie der Buchhändler seine Erfahrungen schildert. Wie er mich an seiner Vergangenheit teilhaben lässt – von seinem Leben und seiner Trauer erzählt. Wie sein Vater nach der Staatsgründung Israels aus Palästina vertrieben wurde. Wie oberflächlich, vielleicht sogar nicht vorhanden, sein Wissen über das jahrhundertealte jüdische Leiden ist. Und so, muss ich traurig konstatieren, entsteht letztlich seine Sicht der Dinge. Und welches Recht habe ich, ihm zu widersprechen, seine Geschichte zu marginalisieren? Gerade wenn auch ich die heftigen Bilder blutender, vielleicht sogar sterbender Kinder in Gaza sehe, welche in den Nachrichten täglich gesendet werden? Ausschnitte eines furchtbaren Krieges, die aus Pietätsgründen in Schweizer Medien wohl nicht gezeigt würden?
Es sind bewegende Tage hier in Amman, intensive Erfahrungen reihen sich dicht aneinander. Mein Mitteilungsbedürfnis ist zuweilen entsprechend gross. Um einen unangenehmen Handydaumen zu vermeiden, habe ich angefangen, über Sprachnachrichten mit meinen Liebsten zu kommunizieren. Wer mich kennt, weiss, dass ich dies eigentlich nicht mag. Wer diesen Text aufmerksam gelesen hat, versteht vielleicht auch, warum.
Allerdings weiss ich längst nicht mehr, welche Geschichten ich wem schon erzählt habe. Also höre ich ab und an meine eigenen Sprachnachrichten. So dränge ich mir meine eigene Stimme auf und stelle überrascht fest, dass ich mich an sie gewöhne. Es gibt Momente, da finde ich sie sogar schön. Gewisse Wunden heilt die Zeit also doch.
Ein Versprechen an mich
Die neuerliche Eskalation zwischen Israel und Palästina drängt in die Hoffnungslosigkeit. Doch ich weigere mich, mich ihr hinzugeben. Ich weiss, dass ich all diese Verletzungen auf beiden Seiten nicht wegzaubern kann. Ich weiss auch, dass ich bei aller Empathie die Gefühle der Menschen hier auf einer emotionalen Ebene nie verstehen werden kann.
Ich weiss aber, dass ich die Möglichkeit besitze, mich abgrenzen zu können. Das ist ein Geschenk. Denn es erlaubt, in kleinen Taten Wege zur Versöhnung zu suchen. Das rede ich mir zumindest ein. Denn so wird jedes Wort, das ich bei Liqa lerne, zu einem Hoffnungsschimmer. Und jede blumige Begegnung zu einer Geschichte der Annäherung, die weitererzählt wird, Vorurteile abbaut und Verständnis schafft. Letztlich verspreche ich mir selber, immer Teil der Lösung sein zu wollen. Auch wenn das für den Moment heisst, dass das arabische Wort für „Krieg“ längst zu meinem Wortschatz gehört. Ich dasjenige für „Frieden“ allerdings schon mehrmals wieder vergessen habe.
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