Wenn Politikerinnen und Politiker komplett die Beherrschung verlieren

Es wird geschrien – oder eher gebrüllt, müsste man schon beinahe sagen. Ich bin erstaunt und erahne nicht, was da im Stadtparlament von Tiflis noch alles passieren wird. Die Politikerinnen und Politiker sitzen im Saal, und die Presse verfolgt die Debatte von der Tribüne aus. Es sollte eigentlich über die Stadt diskutiert werden. Stattdessen streiten sich die Regierungspartei und die Opposition um die Zukunft des Landes.

Ein spezieller Dreh im Stadtparlament von Tiflis. (Foto: Paula Nay)

Ein gespaltenes Land

«Georgien steht am Scheideweg», sagt die Schweizerin Barbara Gimelli. Sie lebt seit 16 Jahren in Georgien, ist Mitglied der Opposition und kämpft für den Anschluss an Europa. Mehr als 80% der Bevölkerung möchte in die EU. Die Regierung hat zwar den Antrag bei der EU gestellt, sie tue aber alles, um den Anschluss zu sabotieren, sagt Gimelli. Damit meint sie das Amtsenthebungsverfahren, welches die Regierung gegen die Präsidentin Salome Surabischwili eingeleitet hat. Die Regierung wirft ihr vor, sie sei Ende August nach Europa gereist, um für den EU-Beitritt ihres Landes zu kämpfen, ohne das Vorhaben mit der Regierung abgestimmt zu haben. Das sei verfassungswidrig gewesen. «Das Impeachment produziert innenpolitisch einen Sturm im Wasserglas, um die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken. Und aussenpolitisch setzt sie ein deutliches Zeichen, dass Georgien ganz schwache politische Institutionen hat und somit nicht EU-fähig ist», sagt Gimeli.

Die Schweizerin Barbara Gimelli Sulashvili ist seit 2021 im Stadtparlament von Tiflis. (Foto: Paula Nay)

Anders als gedacht

Um die Sicht der Regierungspartei «Georgischer Traum» zu hören, beantrage ich eine Akkreditation für das Parlament. Nach der politischen Debatte, befragen die Medien Politikerinnen und Politiker. Einzelinterviews gibt es kaum. Das führt dazu, dass alle Sender dieselben Interviews senden. Meine Chefin macht mir wenig Hoffnung, ein Interview mit einem Mitglied der Regierungspartei zu bekommen. Ich telefoniere mit Pressestellen, schicke Links zu meinen Reportagen und schreibe unzählige Mails. Kurz bevor meine Stage zu Ende geht, willigt der Parlamentarier Nikoloz Samkharadze vom «Georgischen Traum» ein.

Nikoloz Samkharadze ist Abgeordneter der Regierunspartei Georgischer Traum. (Foto: Paula Nay)

In seinem Büro sagt er, die Präsidentin habe gegen das Gesetz verstossen und müsse dafür zur Verantwortung gezogen werden. «Optisch sieht es vielleicht nicht gut aus, dass wir versuchen, die Präsidentin von ihrem Amt zu entheben. Wir glauben aber nicht, dass dies ein Hindernis für die Erlangung des Kandidatenstatus sein wird», sagt der Politiker. Der Vorwurf der Opposition, die Regierung wolle den EU-Kandidatenstatus bewusst verhindern, sei aus der Luft gegriffen. «Wir arbeiten intensiv an den von der EU geforderten Reformen, um den Kandidatenstatus zu bekommen».

Georgien und die Rolle Russlands

Die Regierung treibe ein falsches Spiel, sagt Barbara Gimelli. Gegen aussen kämpfe die Regierung zwar für den Kandidatenstatus. Im Hintergrund wende sie sich jedoch immer mehr Russland zu. Georgien hat zum Beispiel noch nie den Einmarsch Russlands in die Ukraine deutlich verurteilt. «Der Einfluss von Russland auf die georgische Regierung ist sehr gross», sagt Gimelli. Das bestreitet Nikoloz Samkharadze vehement. «Russland hat keinen Einfluss auf Georgien. Russland bedroht unser Land», sagt er. Etwa 20% des Landes ist von Russland besetzt. «Wir müssen immer aufpassen, dass die Situation nicht eskaliert».

Das grosse Chaos

Im Stadtparlament zeigt sich, dass Georgien noch weit von der EU-Forderung entfernt ist, die Polarisierung zu überwinden. Die Politikerinnen und Politiker schreien sich nicht nur an, sondern gehen nun auch aufeinander los. Es wird gestossen und gedrängelt – ein einziges Chaos. Nach einigen Minuten ordnet der Vorsitzende eine Pause an. Danach wird in gemässigterem Ton fortgefahren.

Parlament applaudiert Medien

Ich bin die einzige verbliebene Journalistin und packe gerade meine Kamera in den Rucksack als plötzlich im Saal applaudiert wird. Ein Sicherheitsmann sagt mir, ich solle aufstehen. Ich habe keine Ahnung, was ich angestellt haben könnte. Alle schauen zu mir hoch und applaudieren. Ich lache in die Runde, verstehe noch nicht, was los ist. Erst später erfahre ich, dass die Politikerinnen und Politiker sich darüber gefreut haben, dass eine ausländische Journalistin im Saal ist. Und wie es aussieht, machen sie sich Sorgen um mich. Ob ihr Verhalten mich nicht geschockt habe.

Die Regierungspartei gegen die Opposition. (Foto: Paula Nay)

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