Georgien und die Liebe zu Traditionen

Ihr Ruf eilt den Georgierinnen und Georgiern voraus. Schon lange vor meiner Ankunft wusste ich aus Berichten von Bekannten von den Vorzügen dieses Landes. Georgienreisende erzählten mit Ausrufezeichen in der Stimme: die Natur! das Essen! der Wein! die Gastfreundschaft!

Die Georgier selbst würden anfügen: die Traditionen! Denn die Georgierinnen und Georgier sind stolz auf ihr Essen, ihre Volkstänze, ihre Gesänge, ihre Klöster und Kirchen – und auf die jahrhundertealten Geschichten, die dahinterstecken. Die georgische Kultur ist reich an solchen Geschichten und die Menschen erzählen gerne von ihnen. Es gehört wohl dazu, dass ausländische Gäste oft darauf antworten sollen, wie das Land ihnen denn gefalle. Hier höre ich diese Fragen täglich: Do you like our country? Do you like Georgian food? Georgian wine?

Ein georgischer Winzer in der Weinregion Kakheti.

Vor allem der Wein ist ein bedeutender Bestandteil des georgischen Nationalstolzes und er ergatterte sich kürzlich ein Stückchen Weltruhm. Ein internationales Team von Wissenschaftlern fand Beweise dafür, dass schon Menschen in der Jungsteinzeit in Georgien Wein machten, vor rund 8’000 Jahren. Es ist der bisher älteste Beleg für die Weinherstellung. Die Wissenschaft untermauerte, was hier jedes Schulkind schon längst zu wissen glaubte: Georgien ist die Geburtsstätte des Weins. Was aus wissenschaftlicher Sicht nicht bewiesen ist, weil noch ältere Überreste von Wein auftauchen könnten, gilt hier als Fakt. Für die Georgier ist Wein nicht nur ein Getränk. Für die hiesigen Winzer liegt der Wein in der georgischen DNA, er ist ein wichtiger Bestandteil der Geschichten des Landes, der Legenden, der Volkslieder. Aus dem Weinglas trinken die Georgier nicht nur, sondern sie stossen ausgiebig damit an: Auf Gott! Auf den Frieden! Auf die Familie! Auf die Liebe! Auf die Heimat!

Der georgische Chor „Shavnabada“ bei einem Auftritt in Tbilisi.

Auch die Volksmusik ist ein wichtiger Teil der georgischen Kultur und soll bis ins 8. Jahrhundert vor Christus zurückgehen. Stolz sind die Georgier vor allem auf folgende Anekdote, die ich schon in zahlreichen Varianten gehört habe: Als die NASA vor 40 Jahren an Bord der Voyager-Raumsonden Botschaften an mögliche Ausserirdische ins All schickte, war auf unter den Audioaufnahmen der „Golden Records“ auch das georgische Volkslied „Chakrulo“. Vielleicht auch deshalb ist diese Art Musik hier immer noch sehr populär, selbst bei jungen Leuten.

Den allergrössten Wert legen die Georgier aber wohl auf ihre schönste Tradition, eine, von der man nicht genau sagen kann, wie alt sie ist: die Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Es vergeht fast kein Tag, an dem ich nicht irgendetwas geschenkt bekomme von meinen Arbeitskolleginnen: ein Stück Kuchen, Churchkhela (eine Süssigkeit), Jonjoli (eingelegte Früchte) oder diverse andere Esswaren, von denen ich zum Teil nicht mal den Namen weiss. Es gibt immer eine georgische Spezialität, die ich noch nicht probiert habe. Während die meisten meiner Kolleginnen kaum Zeit haben, zu Mittag zu essen, braucht der Gast aus der Schweiz diese Pause selbstredend immer – ich könnte ja verhungern.

Ebenfalls verbreitet ist die Angst, ich könnte mich verlaufen. Deshalb erhalte ich vor jedem Interviewtermin genaueste Instruktionen und das Angebot, dass mich jemand begleitet oder gar hinfährt. Ein Angebot, das ich meistens nur mit Mühe abwehren kann. Abends bringt mich eine meiner Arbeitskolleginnen bis zur Bushaltestelle und wartet mit mir, bis mein Bus da ist. Jeden einzelnen Tag. Wenn ich im Restaurant keinen Hunger habe, bestellen meine georgischen Gastgeber in Eigenregie eine Palette hiesiger Köstlichkeiten. Für mich natürlich. Die Liste liesse sich endlos erweitern, mit eigenen Geschichten, Erzählungen von anderen Reisenden, Leuten, die mich besuchen.

Do you like our language? Do you like the Georgian people? Georgian hospitality? Zumindest teilweise kommt der Stolz der Georgierinnen und Georgier auf ihre Traditionen wohl auch daher, dass sie sich der Schattenseiten ihres Landes ebenfalls bewusst sind. Der Armut zum Beispiel. Die Bettler an jeder Strassenecke sind unübersehbar, rund 10% der Georgierinnen und Georgier leben unter der Armutsgrenze. Grosse Teile der Bevölkerung sind unterbeschäftigt oder arbeitslos. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf und Jahr liegt hier bei rund 3800 Franken. Die meisten meiner Arbeitskolleginnen verdienen etwas mehr als 200 Franken im Monat. Sie arbeiten 8 Stunden pro Tag, 6 Tage die Woche.

Auf die Gastfreundschaft!

Das Spannungsverhältnis zwischen neu und alt, reich und arm, Stadt und Land ist in diesem Land allgegenwärtig. Was die Menschen jedoch zu einen scheint, sind ihre Traditionen und die Liebe zum eigenen Land. Und dieser Funke soll auch auf die ausländischen Gäste überspringen. In diesem Sinne: Auf die Tradition! Auf die Gastfreundschaft!

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