Kafka, Käfig, Hexenjagd

Die Journalisten der Kathmandu Post haben ein strenges Leben. Mindestens lässt das der für alle geltende Wochenplan vermuten. Gearbeitet wird an sechs Tagen, von Sonntag bis Freitag. Die Präsenz jedes einzelnen wird mit einem modernen Fingerprint-Scanner unten im Eingangsbereich des Kantipur Publications-Gebäudes überwacht. Bezahlt wird nur, wer sich rechtzeitig anmeldet, und nicht zu früh wieder abschleicht. Zu den freien Samstagen kommen zwölf bewilligte freie Tage pro Jahr, an denen man fehlen darf. Mehr liegt nicht drin. Keine verlängerten Wochenenden, keine erholsamen Sommerferien, keine ausgedehnten Inspirationspausen. Umso bewundernswerter finde ich es, wie fröhlich und motiviert meine Kollegen bei der Post an meinen ersten Redaktionstagen auf mich wirkten.

Bushaltestelle Jawalakhel. Hier starte ich jeweils meinen Tag.Ich persönlich habe mich sehr gefreut auf den heutigen freien Tag und mir viel zu viel vorgenommen. Velo kaufen, Kleider waschen, Zoo besuchen, Momos kochen, Zeitungen lesen, bloggen… Der „Epic Bike“-Store, bei dem ich Anfang Woche ein paar Testfahrten gemacht habe, hatte leider geschlossen. Eine Waschmaschine habe ich nirgendwo im Quartier gefunden (und mich entschlossen, dass ich das jetzt halt ‚oldschool‘ oben auf dem Dach mit Zuber und Waschbrett erledigen muss). Momos habe ich mir dann in einer kleinen Kantine gegönnt und dazu die „On Saturday“-Ausgabe der Post gelesen. Zusätzlich zu den normalen News-, Wirtschafts- und Sportseiten enthält die „On Saturday“-Ausgabe auch zwei Doppelseiten mit Features zu sozialen und kulturellen Themen. Heute gings um einen japanischen Nudelmeister, den Tod des nepalesischen Sängers Phatteman, die Schrifstellerin Sharda Sharma, das Gedicht „Memory for Forgetfulness“ des palästinensischen Poeten Mahmoud Darwish,  Kinderhochzeiten und ein nepalesisches Gesetz aus dem Jahre 1976, das vorschreibt, niemand dürfe mehr als 51 Menschen zu seiner Hochzeit einladen. Ein wirrer, aber spannender Mix aus Geschichten, die nicht im geringsten relevant scheinen. Und doch geben sie dem Blatt – das momentan dominiert wird von den Problemen im Vorfeld der Wahlen vom 19. November – einen farbigen, leichten Anstrich. Für ebendiese Feature-Seiten hatte ich zwei Themenvorschläge eingereicht. Einerseits darf ich über die Künstlergruppe Sattya schreiben, die im Rahmen ihres Projekts „Kolor Kathmandu“ 75 Mauern in der Stadt mit Graffitis verzierte und dafür viel Kritik einstecken musste. Andererseits recherchiere ich an einer Geschichte über eine Gruppe junger Nepalesen, die mit ihrer Initiative „Youth for Blood“ dem Blutvorrats-Notstand in den hiesigen Spitälern entgegenwirken will. Aber, mehr dazu dann später…

Preis-Apartheid im Kathmandu Central Zoo.Hinter tausend Stäben…

Nach der erfolglosen Suche nach einer Waschmaschine lud ich meine Wäsche wieder im 9rooms ab und spazierte zum nahen Kathmandu Central Zoo, dem einzigen Zoo des Landes. Grad willkommen fühlte ich mich nicht, als mich die Schalterdame darauf hinwies, dass ich nicht 100, sondern 500 Rupien bezahlen müsse. „You’re a foreigner. There’s a different price“, meinte sie und zeigte auf ein kleines Schild mit den entsprechenden Ticketpreisen.

Auch im Zoo drehen Strassenhunde ihre trostlosen Kreise.Ich beugte mich der zoologischen Apartheid, bezahlte und schlenderte an den eingesperrten Tieren vorbei. Fast alle haben geschlafen. Wohl, um dem trostlosen Dasein hinter den tausend Stäben für ein paar Stunden zu entfliehen. Nur der Sloth-Bear trottete zottig im Kreis, schön in der Käfigmitte. Wäre er dem Gitter zu nahe gekommen, hätten ihm die extra aufgespannten, surrenden Stromkabel einen Schlag versetzt. Nicht gerade vorbildlich, wie der Zoo mit seinen Tieren umgeht.

 

Der Sloth-Bär hinter "seinem" Elektrozaun.Die NZZ beim Momo-Treff

Ich habe mich in der Nähe des Ausgangs auf ein Bänkli gesetzt und ein bisschen über die vergangenen Tage sinniert.

Da war das Gespräch mit Akhilesh Upadhyay, dem Chefredakteur der Kathmandu Post, der mich an meinem ersten Arbeitstag auf ein paar Momos in ein Café in New Baneshor eingeladen und mir ein paar grundlegende Tipps für die kommenden Monate mitgegeben hatte: Iss keine Rohkost. Trink kein Wasser, das du nicht selber gekauft hast. Zahl niemals das, was die Taxifahrer, Kleiderhändler und Touristenführer im ersten Anlauf verlangen. Werde nicht überfahren. Duck dich, sonst stösst du dir hier alle fünf Meter den Kopf an.

Akhilesh, der sich sichtlich über meine Ankunft freute, schien keine Bedenken zu haben bezüglich meinen journalistischen Qualifikationen und wollte stattdessen offensichtlich sichergehen, dass ich nicht frühzeitig wegen einer Lebensmittelvergiftung oder einem Schädelbruch aus meinem Praktikum ausscheide. Ich habe ihm zum Abschluss unseres gemütlichen Momo-Treffs einen Artikel aus der NZZ geschenkt, in dem er als Experte zur momentanen politischen Lage in Nepal zitiert wurde. „The misspelled my name!“, beschwerte er sich lächelnd.

Strassenbau vor meiner Wohnungstür.Hexenjagd und Totengräber

Da war das Gespräch mit Weena, der „rasenden Reporterin“ der Post, die letzte Woche einen Artikel über Hexenverfolgungen in Nepal geschrieben hat. Alleine im letzten Jahr wurden in Nepal mehr als 90 Frauen gelyncht wegen „dringendem Verdacht auf Hexerei“. Tausende Frauen wurden geschlagen, vertrieben, eingesperrt. Viele von ihnen mussten sich zur „Strafe“ für angeblich ausgesprochene Flüche tagelang von menschlichen Fäkalien ernähren. Eine gängige Praxis in abergläubischen nepalesischen Kreisen. Das Problem ist kein ausschliesslich ländliches.

Auch in Kathmandu selbst kommt es immer wieder zu Hexenverfolgungen und Ermordungen von verdächtigen Frauen. Die Gesetzeslage ist undurchsichtig. Griffige Paragraphen, um das Problem anzupacken, gibt es nicht. Betroffen sind einerseits alte, demente Frauen. Andererseits aber immer häufiger auch gebildete, erfolgreiche Frauen. Weena, die Stanford-Absolventin, musste selbst aus ihrem Dorf im Westen Nepals fliehen, weil man ihr mit einem Hexenprozess gedroht hat.

Da war das Gespräch mit dem jungen Sportjournalisten Krishna, der mich jeweils zwischen 17 und 18 Uhr ablöst und „meinen/seinen“ Arbeitsplatz übernimmt. Krishna schreibt neben seinen Sportstories immer mal wieder Reportagen über Begegnungen, die er auf seinen „lonesome citywalks“ mit der Stadtbevölkerung hat. (Hier eine besonders schöne über die Begegnung mit dem „Totengräber“ Kathmandus.) Als ich am Freitag einen seiner Artikel über die SAFF Championships (Südasiatische Fussballmeisterschaft) gegenlesen wollte, hat er mich plötzlich gefragt, ob ich als Deutschsprachiger Kafka lese, und ob das auf Deutsch auch so unglaublich schön sei wie auf Englisch. Das machen also nepalesische Sportjournalisten: Sie lesen Kafka, und das erst noch zum Vergnügen…

Eindruck aus dem nächtlichen Patan.

Und da waren die Kantinengespräche mit Pranaya, meinem Betreuer, von dem hier alle erzählen, er sei der beste Schreiber der Stadt, von ihm könne man was lernen, und der sich dann jeweils an seiner jugendlichen Glatze kratzt und auf Nepalesisch zu fluchen beginnt. Die „Mittagspause“ am späten Nachmittag haben Pranaya und ich die letzten beiden Tage dazu genutzt, Heidegger durchzukauen, Nietzsche anzuhimmeln, Arcade Fire abzuspielen, den Nahostkonflikt hypothetisch aufzulösen und gesüssten Kaffee zu schlürfen.

Pranaya, so scheint mir, hat sich die letzten dreissig Jahre ungebremst durch die westliche Literatur-, Musik- und Filmszene gefressen. Und ich habe grösste Mühe, seinem temporeichen Tiefgang zu folgen. Mein kleiner Trumpf: Ich habe gestern die deutsche Ausgabe von Nietzsches „Morgenröte“ mitgebracht (eines von sieben Büchern, das ich mit nach Nepal genommen habe) und im Post-internen Philosophenzirkel ein bisschen daraus vorlesen dürfen, weil Pranaya unbedingt wissen wollte, wie Nietzsche im Original tönt.

Auch Pranaya schreibt eindrückliche Texte über Menschen, denen er begegnet oder die ihn geprägt haben. Als der irische Dichter Seamus Heaney Ende August starb, hat ihm Pranaya ein Portrait gewidmet, mit dem – wie ich finde – wunderschönen Satz:  „A death always prompts reflection, perhaps because the person dead will never be producing anything again.“ Ich glaube, ich kann von meinen Post-Kollegen sehr viel lernen.

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