Winter’s Growing

Zu meinem 26. Geburtstag habe ich mir ein mobilitätstechnisches Downgrade verordnet. Ich bin gesunken in der Hackordnung von Kathmandus Strassen. Vom Taxi-Niveau auf das Velo-Level. “Watch out, cylists simply don’t exist in the eyes of the others”, hatte mich Akhilesh, mein Chef, vorige Woche gewarnt. Doch irgendwann hat man genug von den allmorgendlichen Preisverhandlungen mit den Chauffeuren am Strassenrand. Und während den für Anfang Oktober angekündigten “bandas” (Generalstreiks, ausgerufen von gewaltbereiten politischen Minderheitsparteien, die sich gegen die anstehenden Wahlen auflehnen) darf sowieso nichts Motorisiertes mehr durch Kathmandu kurven. Also habe ich investiert und mir für 48’000 Rupien ein Occasion-Bike gekauft.

Seit dem 26. Dezember 2010 bin ich generell vorsichtig mit dem Kauf von Fahrzeugen im Ausland. (Die damals gestartete, knapp 60’000 Kilometer andauernde Leidensgeschichte kann man hier nachlesen.) Doch, mein neuer Wegbegleiter hat sich auf der ersten grösseren Ausfahrt bewährt:

Am Samstag traf ich mich morgens um halb sechs mit meinem Mitbewohner Uzair und seinen zwei Freunden Dishep und Praful am noch fast menschenleeren Tempelplatz Patan Durbar Square, um gemeinsam die rund 40 Kilometer bis nach Dhulikhel unter die gut gefederten Räder zu nehmen. In den Wäldern hinter Dhulikhel hat Jason, ein bekannter von Uzair, am Wochenende seine 8’500 Quadratmeter grosse Ökofarm eingeweiht und zu einem zweitägigen Workshop geladen. Und so kämpften wir uns dem staubigen Highway entlang via Bhaktapur und Banepa die Hügel hoch und genossen die Abfahrt auf dem steinigen Downhilltrack hinunter ins wilde Hinterland der Tempelstadt Dhulikhel.

Rhetoric of Change & Winterzwiebeln

In diesem Hinterland hat der 23-jährige Jason Grosses vor. Was für mich anfänglich nach Bauernhofrundgang und anstrengenden Vorträgen über die Vorzüge von biologischen Anbaumethoden geklungen hatte. entpuppte sich als Begegnung mit einem Menschen, der mich durch sein schieres Wirken in eine persönliche kleine Schaffenskrise gestürzt hat und der einem – ohne böse Absicht – allerdeutlichst aufzeigt, was man mit 23 Jahren so alles anfangen kann, wenn man denn nur will.

Jason ging auf eine nepalesische Privatschule, hat drei Jahre lang in New Orleans Mathematik und Internationale Beziehungen studiert, eine Weile in Berlin geforscht, vier Monate als Lernender auf einem Ozeankreuzer gearbeitet, Mexiko, Europa un Asien bereist, sich auf seine Karriere als Sprecher der nepalesischen Regierung vorbereitet und ist dann zur Einsicht gekommen, dass das nicht das Ziel sein kann. “The state is not the right entry level if you want to bring about change. In the end, it all comes down to natural resources.” Diese  Einsicht ereilte den jungen Kathmanduer vor einem Jahr. Er hat sich ein Herz gefasst, hat alles über Landwirtschaft gelesen, was er finden konnte, hat sich im angesprochenen Hinterland Dhulikhels einen 8500 Quadratmeter Hügel gekauft und damit begonnen, bei lokalen Bauern nachzufragen, was für Anbaumethoden sie anwenden, welche Gräser, Früchte und Getreide sie kultivieren und wie sie mit der spärlich vorhandenen Energie haushalten. Jasons Ziel: schauen, was die Nachbarn machen, die Praktiken mit seinem theoretischen Wissen abgleichen und durch experimentelles Vorgehen neue Methoden für den Gemüseanbau, die Viehzucht oder die Energieproduktion entwickeln. Ein Beispiel: Nepal hat einen hohen Zwiebelkonsum. Zwiebeln konnten hier bisher aber nur im Winter geerntet werden. Von März bis November werden 96 Prozent aller Zwiebeln aus Indien importiert. Jason hat – in Zusammenarbeit mit einem Biologen – eine Methode entwickelt, die es ihm erlaubt, bereits während der Monsun-Zeit (Juli-August) Zwiebeln anzupflanzen und ab September ernten zu können. “In a way, I am the one taking the risk, and if it works and people want to learn from it, I provide them with all the knowledge they need to copy my practices. For free”, erzählt Jason inmitten seiner fast reifen Zwiebeln.

Ausblick ins wilde Tal.
Ausblick ins wilde Tal.

Daneben pflanzt er Bananen, Guave, Kiwis, Pfeffer, Orangen, Broccoli, Salat, Gewürze, Spinat, Birnen und verschiedene Gräser an, kultiviert Bakterien im gesammelten Urin seiner vier Buffalos, kocht mit dem von den Tieren produzierten Biogas, baut mit Hilfe seiner vier Angestellten ein Haus aus selbstgeklopften Lehm/Stein/Sand-Blöcken, züchtet verschiedene Bambusarten, sammelt Regenwasser und plant, bis 2015 vier kleine Lodges für Touristen auf seiner wunderschönen Terrassenfarm aufzustellen. Er hat Partnerschaften mit verschiedenen Universitäten, hält seine Türen jederzeit offen für interessierte Besucher, bekocht sie mit nepalesischen Menüs und erzählt stolz, dass die ersten Nachbarn bereits nächstes Jahr sein Zwiebel-Konzept übernehmen wollen.

Morgenstimmung über dem Kathmandu Valley.
Morgenstimmung über dem Kathmandu Valley.

Jason plant, in jedem Ökosystem Nepals eine solche “experimentelle Farm” aufzubauen und zu versuchen, die jeweils lokalen Praktiken zu verbessern. Als nächstes will er sich mit Yak-Zucht im Himalaya versuchen. Der junge Mann erzählt stundenlang über die Projekte, über Anbaumethoden, über Guavebäume und warum man sie nicht neben Bananenstauden Pflanzen sollte und über die richtige Mischung für die geklopften Häuserblöcke. Dazwischen sagt er immer wieder druckreife Sätze wie: “I don’t believe in the rhetoric of change. Don’t tell people what to do. Just do it yourself, and if it works and people are interested, they will come and learn from you.” / “Agriculture has been about dominating nature for centuries. We actually forgot to look at nature and don’t know how to learn from its patterns anymore.”

Bis spät in die Nacht haben wir am lodernden Feuer nepalesische Speisen verschlungen, selbstgemachte Lassi-Varianten mit Buffalomilch und Guave-Saft probiert und die frische Luft genossen, die in Kathmandu so rar ist wie Zwiebeln im nepalesischen Sommer. Ich bin am nächsten Morgen früh aufgestanden, habe den Sonnenaufgang über dem Bergtal bestaunt und mich dann auf den Rückweg in die Hauptstadt gemacht. Ab Dhulikhel gings nur noch bergabwärts. Ich habe mich in den Windschatten eines topmodernen Toyota Hiace-Personentransporters gehängt, auf dessen Heckscheibe ein grosser “World Insight – Erlebnisreisen”-Kleber prangte. In genau so einem Gefährt bin ich im vergangenen November sechs Tage lang durch Thailand gekarrt worden. Ich bin froh, Nepal auf anderen Wegen kennenlernen zu dürfen. In diesen Toyotabussen riecht man die lodernden Abfallfeuer vor den Dorfeingängen nicht. Man muss sich nicht alle zwei Minuten den Staub aus den Augen reiben. Man sieht die toten Hunde nicht, die vor Kathmandu die Strassen säumen. Und man muss sich schlussendlich fragen, ob man wirklich da war, wo man glaubt, gewesen zu sein.

Banepa: urban utopia im ländlichen Nepal.
Banepa: urban utopia im ländlichen Nepal.

Zusätzliche Bilder auf www.insidenepal.ch

 

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