Wo der Glaube trägt und die Politik scheitert

Eine Woche habe ich Zeit, um mich in Peru einzufinden. Das reicht gerade aus, um erste Befindlichkeiten der Bevölkerung abzuholen; um mir die lokale Berichterstattung zu den politischen Turbulenzen anzuschauen; um einmal auf knapp 5000 Metern über Meer zu sein und dabei auf die Koka-Pflanze zu vertrauen; um einen 16-stündigen Überlandbus zu geniessen und um mich zu Hause zu fühlen.

In einem Graffiti wird Ex-Präsidentin Dina Boluartin als Mörderin bezeichnet.
Auf einem Graffiti wird Ex-Präsidentin Dina Boluarte als Mörderin bezeichnet.

Vor meiner Abreise in der Schweiz werde ich ein bisschen nervös. Die Lage in Peru ist angespannt, schon seit einiger Zeit gibt es in der Hauptstadt Lima heftige Proteste. Vor allem die junge Generation geht auf die Strasse, zeigt ihren Unmut über die steigende Kriminalität und die Korruption im Land. Dafür verantwortlich machen sie auch Präsidentin Dina Boluarte. Diese wird Anfang Oktober kurzerhand abgesetzt wegen – ich finde das nach wie vor eine interessante Begrifflichkeit: «dauerhafter moralischer Unfähigkeit». Wenig später verhängt Interimspräsident José Jerí den Ausnahmezustand; unter anderem wird für einen Monat die Versammlungsfreiheit aufgehoben.

Alles im Umbruch, und ich pflanze mich als Journalistin dort mitten hinein. Weil ich das im Rahmen eines Programms mache, das mitunter von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit – also vom Aussendepartement – organisiert wird, frage ich an, ob ich eine Art konsularischen Schutz erhalten würde, sollte die Situation eskalieren. Kriege ich nicht. Schon im Flugzeug stelle ich aber fest, dass ich das gar nicht benötige.

Gottes Segen

Neben mir sitzt Angelina, eine schätzungsweise 100-jährige Peruanerin mit tiefen Kerben im Gesicht und einem Lächeln, das jedes Herz zum Schmelzen bringt. Angelina mag mich, und zwar so sehr, dass sie mich segnet. Nicht mit einem lapidaren «Que dios te bendiga», nein, Angelina holt am Ende unserer Flugreise zu einer fünfminütigen Segenspendung aus. Mir als Ex-Christin wird dabei etwas unangenehm, aber man sollte den Schutz annehmen, den man kriegt, oder? Ausserdem bin ich überzeugt, dass Angelina höhere Mächte hat. Diese Frau ist während unseres knapp 12-stündigen Flugs kein einziges Mal von ihrem Sitz aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen oder sonst irgendwelchen irdischen Bedürfnissen nachzugehen. Das muss Hilfe von oben sein. Ich bin also safe.

In Arequipa feiern die Menschen den Señor de los Milagros.
In Arequipa feiern die Menschen den Señor de los Milagros.

Bei meinem ersten Halt in Arequipa – der zweitgrössten Stadt des Landes – zeigt sich gleich am ersten Tag, welchen Stellenwert das Christentum hier hat. In einer riesigen Prozession ziehen Hunderte Menschen durch die Strassen, eine Gruppe von Männern trägt eine golden schimmernde Darstellung Jesu auf einer Trage, Frauen begleiten den Marsch und singen dazu, alles ist in Weihrauch gehüllt. Eine junge Frau sagt mir: «Das ist die letzte und grösste Prozession in diesem Monat.» Im Oktober feiern die Peruaner:innen den Señor de los Milagros, den Christus der Wunder, und das so richtig ausführlich.

Kraft der Pachamama

Bevor es in Lima losgeht mit dem städtischen Trubel, will ich noch ein bisschen rauskommen, etwas vom Landleben erfahren. Ich mache mich auf zum Cañon del Colca, einem der grössten Canyons der Welt mit einer Tiefe von rund drei Kilometern. Und siehe da, auch mit meinem Guide im Canyon – Liberato – komme ich schnell auf das Thema Religion zu sprechen. «Gott ist alles und ohne Gott ist alles nichts», sagt er. Liberato hat eine Ausbildung zum Pastor gemacht und die Bibel von der «Genesis bis zur Apokalypse» studiert, wie er immer wieder betont.

Liberato ist Guide und Pastor im Dorf Cabanaconde.
Liberato ist Guide und Pastor im Dorf Cabanaconde.

Im Colca-Tal wird aber auch klar, dass die Menschen hier neben dem Christentum noch anderswoher Kraft schöpfen: der Natur. In den Anden fliegen Kondore, diese mächtigen Vögel, die eine Flügelspannweite von bis zu drei Metern erreichen. Die Kondore werden als heilige Boten zwischen der spirituellen Welt – Hanan Pacha – und der irdischen Welt – Kay Pacha – angesehen. Schon für die Inkas waren sie wichtige, heilige Tiere, und das sind sie vor allem für die Menschen in den Anden heute noch.

Koka in der Höhe

Die Natur ist hier auch Religion. Die Gemeinschaften sprechen liebevoll von der Pachamama – der Mutter Erde. Und aus der Pachamama wächst ein für die peruanische Bevölkerung zentrales Gewächs: die Koka-Pflanze. International ist sie umstritten, weil daraus Kokain hergestellt wird, aber dazu komme ich wohl in einem späteren Blogeintrag noch zu sprechen. Die Koka-Blätter sind Teil von spirituellen Zeremonien und Opfergaben, und sie werden aus gesundheitlichen Gründen benötigt. Das kriege ich selbst zu spüren.

Nach drei Wandertagen im Canyon fahren wir auf dem Rückweg nach Arequipa zu einem Aussichtspunkt, um dort ein Dutzend Vulkane zu sehen. Die Sache ist: Wir erreichen dabei fast 5’000 Meter über Meer. Vom tiefsten Punkt des Canyons bis zum «Mirador de los Volcanes» haben wir 3’000 Höhenmeter zurückgelegt. Klar, einen Teil davon wandernd, den anderen Teil mit einem Van in überschaubarem Tempo. Trotzdem genügt es, dass mir langsam etwas schummrig wird. So sitze ich bald im Bus, schiebe mir Koka-Blätter in den Mund und zermalme sie wie eine Kuh. Koka hilft gegen Höhenkrankheit, weil es die Sauerstoffaufnahme verbessert. Also einfach immer weiterkauen, ohne zu schlucken – das muss man erst einmal können. Meinem Kopf hilft es.

Caroline auf 5000 Höhenmeter
In den Anden ist man schnell auf 5000 Metern über Meer; da helfen einem Koka-Blätter.

Auf nach Lima

In jedem Land, so finde ich, sind Busbahnhöfe ein Erlebnis für sich. Die Menschen mit ihren teils monströsen Gepäckstücken, die Verkäufer:innen mit den Snacks für die Reisenden, die lauten Rufe und Durchsagen. Das sagt viel aus. Anstatt nach Lima zu fliegen, nehme ich also einen Überlandbus, 16 Stunden. Meine Schwester findet, sie würde das nicht überstehen. Ich finde, das ist gemütlich. Okay, ich gönne mir die höchstmögliche Klasse mit einem Sitz, der sich 180 Grad nach unten kippen lässt. Peru ist fast etwas angeberisch: Ich kann am Platz mein Handy aufladen, habe einen Screen vor mir und es gibt sogar WLAN. Doku-Binging, Telefonate in die Heimat, Podcasts und Musik en masse. Einzig für die Toilette muss ich aufstehen, und das ist im wackeligen Bus ein Gefahrenpotenzial. Angelina, ich denke an dich.

«Du kommst in einer ganz schön interessanten Zeit nach Peru», sagt mein Taxifahrer Juan in Lima. Er ist der Erste, der von sich aus auf die politische Lage im Land zu sprechen kommt. Peru hat in zehn Jahren acht verschiedene Präsident:innen erlebt. Die Politik ist derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich immer mehr von der Bevölkerung entfernt. Sie müsste sich um Gesundheitsversorgung, Infrastruktur, Bildung kümmern. Doch Juan sieht nicht, dass das passiert. Für ihn gibt es die Politik, und dann gibt es die Bevölkerung: «Wir Peruaner:innen mögen es, unabhängig zu sein. Wir arbeiten nicht gerne für Unternehmen. Viele haben ihr eigenes kleines Geschäft und verdienen sich so ihr Leben. Wir sind es, die dieses Land und die Wirtschaft am Laufen halten.»

Ich habe nun Gesprächsstoff für meine ersten Tage auf der Redaktion von La República. Zunächst steht aber noch ein Besuch beim Schweizer Botschafter in Lima an.

Zum Schluss noch ein Alpaka, weil zu süss!
Zum Schluss ein Alpaka, weil zu süss!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert