Ade, verblichene Tropenschönheit – und verlier dein Gesicht nicht

Ich nutze die Feiertage, um meine drei Monate Yangon revue passieren zu lassen. Ein Blick auf Guerillapagoden an der Maha St., Verlagschefs mit Besserwisserminen und «disziplinierte» Demokratie.

Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich auf das türkisfarbene Wasser des Golf von Bengalen, die Augen zugekniffen vor Intensität der Sonne, das Rascheln der Kokospalmen in den Ohren. Am endlosen Streifen weisser Sand werken einige Fischer, die ihre Holzbote mit frischem Pech bestreichen. Die Szenerie hier im Ausblick von der Terrasse des «Bay of Benegal Resort» (wo man nur zum Essen hinkommt, weil die Übernachtung 150$ kostet) erinnert mich ein wenig an die Abschlussszene von „Shawshank Redemption“, als Morgan Freeman seinen Freund und ehemaligen Mithäftling, Tim Robbins, nach seiner Entlassung an einem verlassenen Strand in Mexiko wiederfindet. Nur dass hier kein alter Freund wartet und auch die Palmen und Ausblicke in den offenen Ozean nicht darüber hinweg täuschen, dass Weihnachten, weit weg von zuhause, halt doch immer eine eher einsame Angelegenheit ist.

Weihnachten in Ngwe Sang am Golf von Bengalen. (Bild: Samuel Schlaefli)
Weihnachten in Ngwe Sang, am Golf von Bengalen. (Bild: Samuel Schlaefli)

Das kleine Küstendorf Nwge Saung, 5h Busfahrt von Yangon entfernt, ist ein willkommener Kontrast zum herrlichen Chaos der Hauptstadt und ein guter Ort, um die vergangenen drei Monate ein wenig Revue passieren zu lassen. Vergangenen Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag auf der Redaktion und mein Abgang wird vom Gefühl begleitet, ein sinkendes Schiff verlassen zu dürfen. Mit der «Myanmar Times» steht es derzeit nicht zum Besten. Eine Reputation und neue Freiheit, die während 13 Jahren Zensur, Restriktionen und Verhaftungen von überzeugten Journalisten mit viel Hartnäckigkeit erkämpft wurde, wird derzeit auf dem Altar des kommerziellen Erfolgs, der Elitentreue und des Nicht-mehr-Anecken-Wollens geopfert. Seit der politisch motivierten Entlassung von Fiona MacGregor, einer ausgezeichneten Investigativjournalistin, wegen ihrer Berichterstattung zur aktuellen Tragödie in Rakhine und der darauf folgenden neuen Zensur, kam es zu einer ganzen Reihe von Kündigungen. Der Chefredaktor wurde aufgrund einer Annonce entlassen, in der sich die Redaktion auf Seite 2 für «momentane Lücken in der Berichterstattung» bei der Leserschaft entschuldigte. Dies nachdem sämtliche Berichterstattung zu den Rohingya und Rakhine eingestellt wurde. Er wollte eigentlich zurück in die USA. Doch als ich ihn zum letzten Mal sah, sagte er sichtlich entspannt: «Ich dachte ich müsse nach 13 Jahren raus aus Myanmar. Doch nun merke ich, dass nicht das Land der Grund für meine Desillusionierung ist, sondern die Zeitung.»

Der leitende Wirtschaftsredaktor schmiss den Bettel zwei Tage nach MacGregors Entlassung aus Protest hin. Der Nachtredaktor hat eine bessere Stelle gefunden. Und Subeditor Dave ging das ganze derart an die Nieren, dass er sich frühzeitig verabschiedete für die Behandlung seiner Nierensteine in den USA. Die verbleibenden Redaktoren leiden seither unter chronischer Überbelastung und einem Motivationstief. Die lokalen Reporter und Redakteure nehmen das Ganze gelassener, sie mucken weniger auf. Die Älteren haben genug erlebt, um sich durch die aktuellen Turbulenzen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Und die jüngeren lassen sich von NGOs oder Telekomunternehmen abwerben, die viermal höhere Löhne bezahlen, ohne dass sie unter dem Druck einer Deadline, Anfeindungen und der Gefahr von Repressalien arbeiten müssen.

Was unser CEO und Verlagschef in Personalunion hier den lieben langen Tag genau tut, weiss niemand so genau. Das Management kümmert sich keinen Deut um die desolaten Zustände auf der Redaktion und die akute Unterbelegung. Der Mittfünfziger aus Malaysia war anfangs Jahr vom Verwaltungsrat eingesetzt worden, mit dem Versprechen den grossen Turnaround der Zeitung einzuleiten. Dies zu einem Zeitpunkt, als die Zeitung noch auf ihrer qualitativen Höhe stand, und auf eine englischsprachige Wahlberichterstattung zurückschaute, die im Land einzigartig und hoch geschätzt war. Wohin sich die Zeitung genau «turnen» sollte, hat nie jemand verstanden. Für Journalismus und Inhalte interessiert sich der CEO nicht. Weder hat er MacGregor den Rücken gestärkt, als sie in Bedrängnis kam (soweit, dass sie das Land kurzfristig verliess), noch hätte er sich je darum gekümmert, die besten Redakteure zum Verbleiben bei der Zeitung zu motivieren. Und schon gar nicht hätte er sich je die Zeit genommen diejenigen Leute nach ihrer Befindlichkeit zu fragen, die «seine» Zeitung am Laufen halten.

Die Propaganda der Aufrechten

Was ich ebenfalls nicht vermissen werde, ist die Arroganz von Politikern und Beamten den Medien gegenüber. Die neue Regierung (unter dem Versprechen von Demokratie gewählt und von einer Menschenrechtsikone geführt) hat noch kein Verständnis für die Rolle einer freien Presse in einem demokratischen System. Wer Regierungsbeamte per E-Mail anschreibt, erhält auch nach mehrmaligem Nachfassen meist keine Antwort. Zum Glück gibt es auf der Redaktion immer jemanden, der in seinem abgewetzten und vollgekritzelten Notizbüchlein eine persönliche Handynummer hervorkramen kann. Wenn man den Landwirtschafts- oder Umweltminister dann erst Mal am Telefon hat, heisst es meist, sie seien leider nicht befugt Auskunft zu geben. Das kommt nicht von ungefähr: Die Regierungsspitze, darunter Aung San Suu Kyi höchstpersönlich, hat ihren Ministern und Beamten einen Maulkorb verpasst. Gespräche mit den Medien und zivilgesellschaftlichen Akteuren sind nur nach vorheriger Genehmigung erlaubt. Der Leiter der Heinrich Böll Stiftung sagte mir kürzlich, dass sie bei der Vorgängerregierung (zwar nicht demokratisch legitimiert, aber vom Reformer Thein Sein geführt) viel besseren Zugang zur Regierung hatten. Er führte kürzlich burmesische Journalisten und Medienunternehmer nach Berlin, um ihnen einen Einblick ins europäische Mediensystem zu gewähren; ihnen zu zeigen, dass Pressekonferenzen im Bundestag solange dauern, bis auch der letzte Journalist keine Fragen mehr hat und nicht solange bis die Politiker keine Lust mehr haben. Ein Redakteur von «The Global New Light of Myanmar», dem Sprachrohr der aktuellen Regierung, erklärte ihm daraufhin, dass Staatspropaganda und strenge Regulierung der Medien unter der Vorgängerregierung natürlich problematisch waren. Doch nun sei schliesslich die richtige Partei am Ruder (die Rede ist von Aung San Suu Kyis «National League of Democracy»), da sei der Fall anders und Kontrolle zum jetzigen Zeitpunkt notwendig. Soviel zum aktuellen Demokratieverständnis. 

Zurück zum Arbeitsalltag: Nach verweigerter Auskunft, wird man von den Ministern und Beamten noch ein-, zweimal mit der Telefonnummer eines anderen Würdenträgers abgespiesen, um am Ende dazu aufgefordert zu werden, die Fragen doch bitte per E-Mail zu schicken (was man von zuhause ja bestens kennt, wobei die Aufforderung praktischerweise bereits nach dem ersten Telefonat kommt). Kürzlich erhielt dann mit suspekter Geschwindigkeit eine vierseitige Zusammenstellung von «Antworten» auf meine Fragen bezüglich eines neu geschaffenen Komitees, das Bauern bei der Rückgewinnung ihres illegal konfiszierten Landes helfen soll. Da die Antworten in Burmesisch verfasst waren, musste eine Kollegin das Ganze erst einmal ins Englische übersetzen. Nur um am Ende zu merken, dass die Zusammenstellung mit meinen ursprünglichen Fragen rein gar nichts zu tun hatte.

Im besten Fall eröffnen die vermeintlichen Plattitüden der Minister aber interessante Sichtweisen auf die Rolle des Staates und diejenige seiner Bürger: Zum Beispiel jener Generalsekretär vom «Department of Agricultural Land Management and Statistics», dessen vorgefertigte Antwortliste verlauten liess, dass sich protestierende Bauern doch bitte «disziplinieren» sollen und dass es wichtig sei, dass sie sich im aktuellen Entwicklungsstand des Landes «entsprechend von Recht und Ordnung» verhalten. Dies nachdem Siedlungen von Landarbeitern vom Militär abgefackelt wurden, um Platz für Investoren zu machen; nachdem sich Bauern mit Benzin übergossen und anzündeten, weil sie das letzte verloren, was sie zum Leben besassen – ihr Land. Die Rede von «Disziplin» sowie «Recht und Ordnung» tönt denn auch verdächtig nach Chinas autokratischer Einparteienpolitik und weniger nach einer frischgebackenen Demokratie, die soeben einer fünfzigjährigen Militärdiktatur entkommen ist.

«Crony money, crony money!»

Meine burmesischen Kolleginnen und Kollegen wissen natürlich, dass es mehr braucht, als ein paar E-Mails und Telefonate, um mit amtierenden Politikern und Beamten ins Gespräch zu kommen. Su Phyo Win ist eine motivierte, kluge und – im Gegensatz zu einigen ihrer Kolleginnen Mitte 20 – leidenschaftliche Reporterin. Sie begleitete mich an eine Pressekonferenz, zu welcher eine Behörde eingeladen hatte, die für den Export von (oft illegal gefälltem) Teak zuständig ist. Ich schrieb gerade an einem Hintergrundbericht zur «Myanma Timber Enterprise», einem staatlichen Holzfäller, mit engen Beziehungen zum Militär und dessen privatwirtschaftlichen Ablegern, sogenannten Crony companies, die sich in Myanmar nach wie vor die meisten gewinnbringenden Wirtschaftszweige untereinander aufteilen. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern ein offenes Geheimnis: Die Taxifahrer zeigen gerne auf neue Luxushotels oder Fussballstadien und rufen dazu laut «Do you see there? Crony money, crony money!» und internationale Watchdogs veröffentlichen gut recherchierte Berichte dazu. Die Terrasse des «Bay of Benegal Resort», auf der ich gerade einen frischen Ananassaft schlürfe – wahrscheinlich gebaut mit «crony money».

Die Pressekonferenz war in Burmesisch, ich brauchte also Su Phyos Hilfe. Ausserdem wollte sie sowieso eine News über eine neue Initiative zur besseren Kontrolle von illegalen Holzexporten schreiben. Auf der Taxifahrt ins Businesscenter, wo man vor Betreten des Konferenzraumes seine Schuhe auszieht, genauso, wie es sich auch bei Hausbesuchen gehört, fragte ich Su Phyo, ob sie glaube, dass wir heute etwas Neues erfahren werden. Sie sagte: «Nein, aber wir gehen auch nicht deswegen an Pressekonferenzen, sondern weil es oft unsere einzige Möglichkeit ist, um persönlich Auskunft von Ministern und Beamten zu kriegen. Per E-Mail und Telefon, vergiss es!» Dafür nehmen die Reporter dann gerne auch Mal eine stündige Taxifahrt durch die Rushhour Yangons in Kauf.

«Ako, how are you today?»

Natürlich gibt es auch eine ganze Menge, die ich an meiner Arbeit in Yangon vermissen werde. Die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen als allererstes. Jetzt, wo man – trotz einer Arbeitsatmosphäre, die wenig Zeit für Persönliches lässt – einige Leute langsam ins Herz geschlossen hat, ist das Ganze auch schon wieder vorüber. Es brauchte Zeit, um die kulturellen Barrieren zwischen dem «foreigner» (leider gibt es hier kein wohlklingendes Wort für uns, wie beispielsweise das «Muzungu» im Suaheli) und den burmesischen Mitarbeitenden abzubauen. Das hat mit gesellschaftlichen Hierarchien zu tun und mangelndem Selbstvertrauen, geprägt von fünfzig Jahren Unterdrückung. Aber auch mit einem Gemeinschaftssinn und Fokus auf die eigene Familie, die mir fremd sind. Hinzu kommen Führung und Arbeitskultur: Wenn sich niemand die Mühe macht, ein Miteinander anstelle eines Nebeneinanders zu fördern und dies nicht als integraler Bestandteil des Erfolgs der Zeitung erachtet wird, dann fehlen Gelegenheiten und Räume, um Verständnis und Empathie aufzubauen. Das passiert nämlich nicht von alleine; denn wieviel bequemer ist es doch in seiner eigenen kulturellen Blase zu verbleiben, wo man sich versteht, wo es keine sprachlichen Barrieren gibt, wo man sich auf ähnliche Werte und Weltbilder beziehen kann. Kulturelles Verständnis füreinander aufzubauen kann manchmal ziemlich anstrengend sein. Es braucht Neugier, Zeit, Unvoreingenommenheit und Frustrationstoleranz.

Doch was man dabei an Einblicken ins Land, an Verständnis und Freundschaft gewinnen kann, macht die Mühe um ein vielfaches wett. Ich denke da zurück an schöne kleine Missverständnisse, wie zum Beispiel, als mich Nandar, eine Reporterin anfangs zwanzig, bei unserem E-Mail-Verkehr mit «Sir» ansprach. Ich bat sie, das doch bitte zu lassen, schliesslich seien wir einfach Arbeitskollegen und ausserdem würde ich mich dabei furchtbar alt fühlen. Sie verstand meinen Einwand nicht und klärte mich auf: In Myanmar sei das «Sir» – im burmesichen «ako» – nichts weiter als Höflichkeit, die man einem älteren Mann entgegenbringt. Wir einigten uns darauf, dass sie mich künftig mit «ako» ansprach, was in meinen Ohren dann doch einiges weniger hart klang, als «Sir». Das «ako» war fortan unser running gag.

Auch unter den «foreigners» werde ich einige Mitstreiter vermissen: RJ, der grossspurige und laute Amerikaner aus Milwaukee, entpuppte sich als schlauer Fuchs mit gutem Herzen. Ein Jüngling, der im Rahmen eines Fellowships grün hinter den Ohren nach Myanmar kam und hier schnell zum Mann mit einem guten Gespür für grössere Geschichten heranwuchs. Oder Liliane aus Santa Monica, Kind eines aschkenasischen Juden und einer afroamerikanischen Mutter, ein «sweet tooth», die sich ebenso für kulinarische Neuentdeckungen begeistert wie ich. Die letzten Wochen liessen wir keinen Mittag ungenutzt, um im Umkreis von 500 Metern des Redaktionsbüros, uns noch unbekannte Mittagsbuffets oder neue nepalische, indische, burmesische oder Hong Kong`sche «whole in the wall»-Restis zu testen. Gelegentlich liess sich der Genuss auch gleich mit der Arbeit verbinden, wenn Liliane eine Restaurantkritik für die Wochenendausgabe schrieb.

Yangon`s calling!

Subkultur auf burmesisch: Punkkonzert unter dem «Hledan Flyover» inmitten Yangons.
Subkultur auf burmesisch: Punkkonzert unter dem «Hledan Flyover» inmitten von Yangon. (Bild: Samuel Schlaefli)

Das bringt mich gleich zum nächsten Punkt: Welches Privileg, eine Stadt wie Yangon und ein Land wie Myanmar über seine Arbeit entdecken zu dürfen. Da war zum Beispiel dieses komplett abgefahrene Punkkonzert im November unter dem «Hledan flyover», einer Autobahnbrücke inmitten der Stadt. Ich hatte zufällig davon erfahren, machte meinen Taxifahrer mit der Suche des entsprechenden Brückenabschnitts verrückt und habe dann aus einer Laune heraus fotografiert und notiert. Meine Begeisterung für die rohe Authentizität dieser burmesischen Punkszene und deren stilistischen Offenheit gegenüber allen Sorten von Subkultur, schlug sich zwei Tage später als doppelseitige Fotogeschichte in der Zeitung nieder.

Oder da war mein Besuch in Pathein, eine kleine Hafenstadt, eine fünfstündige Busfahrt von Yangon entfernt. Jemand vom Hostel nötigte mich dazu, mich nach meiner Ankunft in Pathein unbedingt bei seinem Freund «John» zu melden (viele Burmesen tragen ein westliches Namensalias). Übernächtigt durch einen Bus, der erst mitten in der Nacht in Pathein ankam, und einem stickig-muffigen Hotel, das mich nicht schlafen liess, tippte ich am Morgen beim «laphet yay» – hälfte Schwarztee, hälfte Kondensmilch – Johns Nummer in mein Handy. Eine Viertelstunde später stand ein Mittdreissiger mit klugem Blick, wohlgenährter Wampe und exzellentem Englisch im Teashop. Ich war ein Freund (und potentieller Kunde) vom ersten Moment an: Mittagessen in seinem bescheidenen Zuhause, Teetrinken mit Freunden, eine Scooterfahrt an den nahegelegenen See, Einladung einer seiner Englischschülerinnen in die grandiose alte Kolonialvilla ihrer Familie – mittlerweile etwas heruntergekommen und von etwa zweieinhalb vollzähligen Familien bewohnt –, wo uns die Mutter der Schülerin, den besten Fisch auftischt, den ich in Myanmar gegessen habe. John, als Lehrer eine Respektperson, und ich, sein westlicher Freund, werden auf Händen getragen – in einem Ausmass, dass ich mein «Tschai-su ding ba dee» (vielen Dank) nicht genügend oft wiederholen kann.

Das Spendenfest Kathein vor einer Pagode im Irrawaddy-Delta (Bild: Samuel Schlaefli)
Das Spendenfest Kathein vor einer Pagode im Irrawaddy-Delta (Bild: Samuel Schlaefli)

Für Sonntag – und hier kommt nun der Kunde ins Spiel – hatte mir John eine seiner Bootsfahrten ans Herz gelegt. Pathein liegt am Ayeyarwady-Fluss, der sich im Delta in hunderte von Seitenarmen auffächert. Naheliegend, dass sich die Gegend am besten mittels Boot erkunden lässt. John baute darauf einen kleinen Nebenerwerb auf, in dem er Fischermänner anheuert, um Touristen durchs Delta zu schippern. Um 7 Uhr in der Früh geht es los. Zuerst eine Stunde lang mit dem Motorscooter durch weite, menschenleere Reisfelder, In einem kleinen versteckten Dorf treffen wir unseren Bootsführer, einen ruhigen stoischen Hünen, der sich nur zu Wort meldet, wenn ihm die Bettelnuss-Pakete auszugehen drohen. Einen halben Tag lang tuckern wir den Flussläufen entlang, besichtigten Dörfer, deren Häuser aus Rattan und den Blättern der Nipapalmen gewoben sind. In den kleinen buddhistischen Tempeln wird gerade Kathein gefeiert, das Spendenfest, an dem die Klöster mit neuen Roben für die Mönche (und sehr viel Geld) versorgt werden. Dann tanzen geschminkte Männer in Frauenkleider auf der Strasse und aus selbstgebastelten Lautsprechern mit Grammophon ähnlichen Röhren scheppern Trommel- und Flötenklänge Meilenweit in die Umgebung hinaus.

Am darauffolgenden Montag wunderte ich mich, weshalb alle Reiseberichte die ich zuvor zu Pathein gelesen hatte auf die (zugegebenermassen kunstvollen) Handicraft-Sonnenschirme fokussieren, die vor Ort in kleinen Werkstätten gefertigt werden. Ich entschloss kurzerhand einen Bericht über unseren Boottrip zu verfassen und setzte Johns Telefonnummer unter den Artikel. Von seinem Freund im Hostel erfuhr ich später, dass er sich angespornt durch einen plötzlichen Anstieg von Kunden, die seine Tour buchen wollen, nun erstmals Visitenkarten drucken liess und er fest davon überzeugt ist, dass seine Zukunft im Tourismus liegt. Kurz darauf erhalte ich eine SMS mit überschwenglichem Dankeschön und Johns Einladung zum Nachtessen, sobald ich wieder in Pathein sei. Leider kam es nicht mehr dazu.

Eine Biographie der Demut, Geduld und Bescheidenheit 

Der Autor zusammen mit «Dschungel Lawyer» U Han Shin Win. (Bild: Samuel Schlaefli)
Der Autor zusammen mit «Dschungel Lawyer» U Han Shin Win. (Bild: Samuel Schlaefli)

Was ich ebenfalls vermissen werde, sind die Begegnungen mit Menschen, deren Leben die Geschichte Myanmars in sich tragen. Zum Beispiel U Han Shin Win, der auf dem Land als Sohn von zwei Habenichtsen aufwuchs. Als einziger von neun Geschwistern überlebte er das Kindesalter. Neben seinen familiären Pflichten, dem Heranschleppen von Feuerholz für die spärliche Schale Reis am Mittag und Abend, besuchte er die Schule. Die Tinte für den einzigen Stift, den er besass, mischte er sich selbst aus Indigo. Er war begabt, studierte bald in Yangon Mathematik, bevor er als Führer der Studentenproteste gegen das damalige sozialistische Regime ins Gefängnis gesteckt wurde. Keine gerichtliche Verurteilung, kein Anwalt, kein Kontakt zur Familie. Mit 13 anderen Häftlingen schmachtete er in einer Zelle von 4 auf 4 Metern. Er lernte einen Anwalt kennen, der in den USA studiert hatte und er nutzte seine Gefangenschaft, zum Studium von Recht und Englisch. Nach fünf Jahren wurde er entlassen, arbeitete als Anwalt und blieb politisch aktiv. Während der 88er-Unruhen wurde er abermals eingekerkert – seine Frau und die beiden Töchter hörten 3 Jahre lang nichts von ihm. Doch auch die zweite Gefangenschaft brach Han Shin Win nicht. «Danach gab es nichts mehr, was mir noch hätte Angst machen können», erzählte er mir, als ich ihn in seinem bescheidenen Reihenhäuschen an der Peripherie Yangons besuchte. «Was ich im Gefängnis alles überstanden habe, gab mir die Kraft für meine heutige Arbeit.»

Heute arbeitet Shin Win unentgeltlich als Anwalt für Bauern, die von korrupten Beamten, vom Militär und Anführern von bewaffneten ethnischen Minderheiten von ihrem Land vertrieben werden. Der «Dschungel-Anwalt», wie ihn seine Freunde nennen, geht vor Ort, lebt oft tagelang mit den Bauern zusammen, trifft sich mit lokalen Behörden und zeigt ihnen, dass da jemand ist, der die Rechtslage kennt und auch die Kontakte hat, um ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Er erzählte mir das alles in einer Gandi-haften Bescheidenheit und mönch`schen Gelassenheit (tatsächlich meditiert er regelmässig). Über drei Stunden nimmt er sich Zeit für einen ihm unbekannten Journalisten, den er danach noch zur Nudelsuppe in die Garküche um die Ecke einlädt. Schliesslich gilt: Jemand, mit dem man nicht wenigstens einmal gespiesen hat, war kein richtiger Gast. Demut, Geduld, Bescheidenheit und Gastfreundschaft sind rar gewordene Tugenden. U Han Shin Win verkörpert sie wie selten jemand, den ich zuvor getroffen hatte.

Die Bierkneipe «Anya Ahta», ist eines der vielen Projekte des Künstlers und Netzwerkers Aung See Min. (Bild: Samuel Schlaefli)
Die Bierkneipe «Anya Ahta» ist eines der vielen Projekte des Künstlers und Netzwerkers Aung Soe Min. (Bild: Samuel Schlaefli)

Oder Aung Soe Min, der Besitzer der kleinen Biernkneipe «Anya Ahta», ein Treffpunkt von (selbsternannten) Poeten, Cartoonisten und Intellektuellen, in unmittelbarer Nähe zu den Büros der Myanmar Times. Als ich wieder Mal für ein Feierabendbier und die tägliche Zeitungslektüre vorbeigehe, kommen wir ins Gespräch. Soe Min ist eine Institution in Yangon. Er hat vor über zehn Jahren die erste Galerie der Stadt eröffnet, die «Pansodan Gallery». Damals war das ein Hort des Widerstandes. Oppositionelle organisierten unter dem Deckmantel der Kunst Gesprächsrunden, um über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu diskutieren. Mittlerweile besitzt er neben der Galerie, einen Veranstaltungsraum für Workshops und Vorträge und zwei kleine Restaurants, beide mit allerlei burmesischer Kunst dekoriert, ohne dass das Ganze zum Ethnokitsch verkommen würde und mit einem guten Gespür dafür gesegnet, was locals und foreigners gleichermassen anspricht.

Soe Min gehört zu denjenigen Vermittlern zwischen den Kulturen, auf die unsereins angewiesen ist. Er ist gereist, spricht Englisch und lässt keine Möglichkeit ungenutzt, um Menschen über kulturelle, sprachliche und professionelle Grenzen zusammenzubringen. Jeden Dienstagabend ist seine Galerie bis Mitternacht geöffnet. Dann wird «Myanmar Beer» ausgeschenkt und ein gesprächiges Völkchen aus Künstlern, Journalisten, NGO-Mitarbeiterinnen und gelegentlich einer verlorenen Touristin plaudern über burmesische Politik, das Trump-Debakel oder den Frust, an Entwicklungsprojekten zu arbeiten, die eher Ansprüchen westlicher Donatoren, als denjenigen burmesischer Bauern entsprechen. Eine einzigartige Gelegenheit, um die eigene fragmenthafte Wahrnehmung Myanmars mit derjenigen von Einheimischen oder Expats abzugleichen, die schon Jahre hier verbracht haben. Ein Amerikaner, der für eine Stiftung Demokratietrainings organisiert und sich über Facebook sehr explizit zur aktuellen Scheindemokratie äussert, erzählte mir kürzlich, dass sein Visa bis heute wahrscheinlich nur deshalb immer wieder erneuert wurde, weil es auf Soe Mins Galerie läuft. Sein Name ist bekannt, sein Netzwerk reicht weit. Kürzlich brachte er seine Gäste zum Staunen, als er von einem Podium mit drei Führern von unterschiedlichen bewaffneten ethnischen Minderheiten zum Thema «public memory» erzählte – und davon, dass er mit den Dreien noch lange im Anya Ahta bei Bier und tea leaf salad zusammensass. NGOs investieren Tausende von Dollars, um die verschiedenen Parteien im Rahmen der aktuellen Friedensgespräche zwischen der Regierung und den bewaffneten ethnischen Minderheiten zusammenzubringen. Bei Soe Min genügen Bier und tea leaf salad.

Freilufttheater des Alltags

Aber auch die Stadt selbst ist ein unaufhörlicher Geschichtenerzähler. Es vergeht praktisch kein Tag, an dem ich nicht noch irgendwas Neues entdecke – sei es eine noch unbekannte Strassenecke, eine noch nie gekostete Köstlichkeit – wie zum Beispiel kürzlich ein mit Bohnenpaste gefülltes Nan, das sich beinahe mit einer frisch gebackenen Calzone messen kann – oder eine frische Brise, die plötzlich an den Herbst erinnert. Dazu trägt bei, dass ich auf anfangs Dezember in die Wohnung von Redaktionskollegen gezogen bin, an die Maha Street inmitten der historischen Downtown – in ein populäres Quartier, das in bester Weise meinen Blick für den Alltag alteingesessener Yangoners schärft.

Es ist nicht schwierig, sich in der Maha Street wohl zu fühlen: Da ist zum Beispiel das Grossmütterchen, das Tag für Tag frühmorgens ihre Feuerstelle aufbaut und einen grossen Kübel mit frisch gerührter Eiermasse anschleppt. In einem kleinen, pechschwarzen Gusseisenpfännchen bäckt sie über Holzkohle eine Art luftiger Pfannkuchen, die ein herrliches Zmorgen hergeben. Wenn der Schweizer Stammgast kurz vor 9 Uhr auftaucht, verbirgt sie ihre Freude unter geschäftstüchtiger Professionalität. Fachmännisch inspiziert sie die bereits gebackenen Pfannkuchen. Wenn diese nicht makellos sind und leichte Brandspuren tragen, schwingt sie ihr Pfännchen nochmals, um mir dann ein frisches Prachtsexemplar in die Hände zu drücken; mit verschmitztem Lächeln und einem mir leider unverständlichen Kommentar zuhanden ihre Kolleginnen, die dem Treiben zuschauen. Der nächste Teashop ist nicht weit, wo es sich unter Bettelnuss-Gespucke, Smog-Geräusper und lautem burmesischen Alltagstratsch vorzüglich frühstücken lässt.

Buddhistische Heiligenschreine in der Maha St., des Autors Adresse während des letzten Monats in Yangon. (Bild: Samuel Schlaefli)
Buddhistische Heiligenschreine in der Maha St., des Autors Adresse während des letzten Monats in Yangon. (Bild: Samuel Schlaefli)

Die EGs der mehrstöckigen Häuser werden in der Maha St. gerne in die Strasse hinein erweitert. Wer für seine mehrköpfige Familie nur wenige Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung hat, der eignet sich gerne ein Stück Strasse für den Eigenbedarf an. Kleinste unbetonierte Flecken am Strassenrand werden mit Papayas bepflanzt und mit Bambushaag zum Privateigentum erklärt. Haufen mit alten Holzlatten türmen sich am Wegrand – die Erweiterung einer Holzwerkstatt auf der anderen Strassenseite. Und der mächtige Stamm eines Gummibaums wird durch mehrere festgenagelte Buddha-Heiligenschreine zu einer improvisierten Guerillapagode.

Abends ist die Strasse ein Freilufttheater des Alltags und die Türen meiner Nachbarn stehen meist weit offen und erlauben tiefe Einblicke in ihr Privatleben. Da ist der Mann im Pensionsalter, der sich über seine Aquarien beugt und im Anblick der geschmeidigen Bewegungen seiner Zierfische etwas Ruhe findet. Da ist die alte Frau, die hinter einer eisernen Nähmaschine sitzt – sie muss Tonnen wiegen – und Kleider flickt, während die Jungen in einen Flatscreen-Bildschirm gaffen. Da ist die junge Frau, deren Gesicht vom Smartphone hell erleuchte ist, während sie nach Eindunkeln vor dem Elternhaus lange mit dem Liebsten telefoniert. Und da sind unsere Nachbarinnen im EG (wir sind im 1.Stock), deren weitläufiges Wohnzimmer gleichzeitig eine Vertriebszentrale für Textilien ist. Die Frauen sitzen allabendlich zwischen dicken Ballen mit bunten Stoffen und entbündeln sie, während am TV eine burmesische Seifenoper läuft. Abends fällt dann auch öfter Mal der Strom für einige Stunden aus. Dann wird es dunkel und ganz ruhig in unserer Strasse und überall beginnen die Kerzenlichter zu flackern. Plötzlich fühlt sich die Stadt wie ein kleines, ländliches Dorf an. Die Maha St., ihre Bewohner und kunstvollen Stromleitungsknäuel; das ist Stoff für Jim Jarmusch, Woody Allen oder Jafar Panahi.

Man wünscht sich, dass solche Quartiere und das Gemeinschaftsgefühl unter Nachbarn, das diese charakterisiert die unaufhaltbare Modernisierung überleben werden, die in Bereichen wie sanitäre Versorgung, Abfallmanagement, Strom und Gewässerschutz zweifellos nötig ist. Doch unter der kurzsichtigen Planung einer von Erfolgsdruck getriebenen Stadtverwaltung droht derzeit vieles kaputt zu gehen. Vor wenigen Wochen wurde ein Dekret erlassen, mit dem die Hauptstrassen der Altstadt von Strassenhändlern und Garküchen gesäubert werden sollen. Chapatti-Bäckereien und mobile Nudelküchen, die jahrzehntelang die Mägen ihrer Nachbarschaft versorgt hatten, zu sozialen Treffpunkten und verlässlichen Quellen für die neusten Stadtgerüchte wurden, müssen nun plötzlich ihren Platz räumen. Nicht um die zweifellos verstopften Trottoirs für die Fussgänger zu vergrössern, sondern um Platz frei zu machen für Autoparkplätze. Nun fährt die Stadtverwaltung abends mit kleinen Lastwagen und Lautsprechern durch die Strassen und stellt den Strassenhändlern und -köchen ein Ultimatum: Entweder sie räumen ihren Platz oder ihre Waren werden konfisziert. 2000 Alternativplätze wurden von der Stadt am westlichen Ende der Strand Road, an komplett unattraktiver Stelle inmitten von Bus- und Autoabgasen geschaffen. Und selbst wenn die Vertriebenen den schlechten Deal eingehen – der Platz reicht nicht aus, denn es sind geschätzte 6`000 Händler deren Lebensunterhalt nun durch das kurzsichtige Dekret gefährdet ist.

Es gibt andere Anzeichen dafür, dass die Stadt bald ihr Gesicht verlieren könnte. Die Myanmar Times-Ausgabe vom 22.12.16 war mit einer viereinhalbseitigen (sic!) «Trade Mark Caution» von Starbucks verunstaltet. Damit sichert sich das Unternehmen die Rechte an seinem Namen, den Logos und allen Sidebrands im Land. Insgesamt waren in der besagten Ausgabe neun Seiten mit solchen «Trade Mark Cautions» von internationalen Unternehmen belegt. Mann kann dies natürlich als Indiz für Öffnung, Demokratisierung und Wirtschaftswachstum lesen. Oder als Ausverkauf des Landes an westliche Bedürfnisse. 95 Prozent der Burmesen werden sobald keine 3 Dollar für einen «Latte fredo with caramel topping» bezahlen können. Ich sehe die «cautions» vor allem als Anzeichen der Eldorado-Stimmung, die derzeit bei Investoren herrschen muss. Keiner will zu spät sein auf dem letzten noch unbeackertem 57-Millionen-Konsumenten-Markt Südostasiens.

Ich werde Yangon, meiner liebgewonnenen, verblichenen Tropenschönheit, nun erstmal den Rücken kehren. Es wird Zeit aus der Stadt rauszukommen und raus aufs Land zu fahren, in die oft selbst administrierten Regionen und Provinzen mit ihren 135 Ethnien und über 100 noch gesprochenen Sprachen. Ich hoffe ich werde eines Tages zurückkehren und die Liebgewonnene dann noch wiedererkennen.

 

 

 

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