Abschied von Kantipur
Meine Chefin hat mir soeben auf Whatsapp geschrieben, dass sie es heute nicht mehr ins Büro schaffe und unsere wöchentliche Sitzung darum ausfalle. Grund dafür ist das Studium, das sie neben ihrem Job abschliesst. Jura und Wirtschaft, vermutlich eigentlich eine Vollzeit-Beschäftigung, genau wie ihre Arbeit. Ich bin daher erstaunt, als der Rest der Abteilung Culture & Lifestyle, also die andere Praktikantin und ein Redakteur, plötzlich vor mir stehen und mich auffordern, mit ihnen in den Sitzungsraum zu kommen. Einwände habe ich natürlich keine, im Gegenteil: Das ist eine gute Gelegenheit, um mich von ihnen zu verabschieden, denn heute ist mein letzter Tag. Mein letzter Tag bei der Kathmandu Post und mein letzter Tag in diesem Büro im achten Stock, dessen verwahrloste leere Arbeitsplätze und schmutzige Fenster davon erzählen, dass die guten Zeiten hier bei Kantipur Media längst vorbei sind.
Kantipur – das war der Name eines alten Königreichs, das von der Dynastie der Mallas, die einen Teil des heutigen Nepals beherrschte, begründet wurde. Der Name ist von den Sanskrit-Wörtern „kant“, was so viel wie schön oder Licht bedeutet und „pur“ für Stadt abgeleitet. Das ehemalige Königreich Kantipur heisst heute Kathmandu. Der aus dem Mittelalter stammende Name der Hauptstadt ist bis heute geläufig, vor allen Dingen in Marketing-Zusammenhängen und als Synonym für den bedeutendsten aller Medienkonzerne Nepals, Kantipur Media.
Die Kathmandu Post, für die ich sechs Wochen gearbeitet habe, ist Teil dieses Konzerns. Das englischsprachige Medium, nur eine mehrerer Publikationen des Unternehmens, genoss lange den Ruf, eine unbestechliche Qualitätszeitung zu sein. „Without Fear or Favour“ – ohne Angst und ohne irgendwem einen Gefallen zu tun, so lautet bis heute ihr der Slogan. Wenn ich Leuten erzählte, was ich in Nepal mache und für welche Zeitung ich schreibe, erhielt ich darum oft ein anerkennendes, manchmal aber auch ein kritisches, ja beinahe betretenes „Oh, Kantipur.“
Wieso betreten? Ich wurde nie ganz schlau daraus, auf welche konkreten Ereignisse sich die Kritiker:innen genau bezogen. Abgesehen von einem Fall, bei dem der damalige Oberste Richter Gopal Parajuli Kantipur daily beschuldigte, wiederholt und voreingenommen negativ über ihn berichtet zu haben, fand ich (bei meinen zugegeben limitierten Möglichkeiten auf Grund fehlender Sprachkenntnisse) keine Berichte über Korruption. Dafür aber fand ich im Verlaufe meines Praktikums heraus, warum in der jüngsten Vergangenheit so viele Journalist:innen die Kathmandu Post verlassen hatten – die Arbeitsplätze waren anscheinend nicht immer so leer gewesen.
„Weisst du eigentlich, was hier los ist?“ fragte mich irgendwann in meiner zweiten Woche ein Journalist, der sich auf einen freien Bürostuhl neben mich gesetzt hatte, um sich vorzustellen und ein bisschen zu plaudern. „Wir streiken“, erklärte er auf meine verneinende Antwort und meinte, die Angestellten hätten seit Monaten keinen Lohn mehr gekriegt, weshalb sie sich wehrten. Einige der Angestellten, meinte ich aus dem kurzen Gespräch zu verstehen. Zwei Wochen später traf ich mich mit ihm. Es war der Tag, an dem der Oppositionelle Durga Prasai einen grossen Protestmarsch seiner Anhänger:innen angekündigt hatte, der wegen eines Demonstrationsverbots sowie eines grossen Polizeiaufgebots doch nicht ganz so gross ausfiel. Prasai fordert die Rückkehr des Königs, die Einrichtung eines Hindustaates und die Erlassung von Schulden.
Jedenfalls wollten sich der Journalist, nennen wir ihn mal Prabin und ich in einem Café im Zentrum treffen, um einerseits die Proteste zu beobachten und andererseits über den Streik zu sprechen. Ich kam mir etwas konspirativ vor, wie ich erst mal zu Fuss hinging, da die Innenstadt für den Verkehr dank der Polizeiblockaden fast unpassierbar war und danach ewig auf Prabin wartete und einen Kaffee nach dem anderen trank. Schliesslich traf zuerst ein friedlicher und bescheidener Demonstrationszug ein, der in unmittelbarer Nähe des Cafés vorbeizog und gleich anschliessend auch Prabin. Etwa eine Stunde lang erzählte er mir von den Arbeitsbedingungen, davon, wie viel oder wenig einige Journalist:innen verdienten (die Untergrenze liegt laut ihm bei etwa 150 Franken) und liess kein gutes Haar an Kantipur, das heisst, an den Chefs des Unternehmens. Obwohl diese in der Vergangenheit unglaubliche Summen verdient hätten, sollten jetzt, da sich die Medienbranche in einer Krise befand, die Mitarbeitenden die finanziellen Konsequenzen tragen. Vor allen Dingen erzählt Prabin vom Protest, der seinen Höhepunkt anscheinend etwa eine Woche vor meiner Ankunft in Nepal hatte und bei dem Kantipur-Mitarbeitende unter anderem ein Sit-In organisierten, um sich gegen missbräuchliche Entlassungen und ausbleibende Lohnzahlungen zu wehren.
In den darauffolgenden Tagen hatte ich das Gefühl, die Dynamiken, die verstohlenen Gespräche und besorgten Mienen, die ich im Büro beobachtete, besser interpretieren zu können. Ohne Nepali zu sprechen, schien es mir aber unmöglich, richtig durchzublicken. Ein, zwei Mal traf ich Prabin, der gelegentlich ins Büro kam und unterhielt mich auch mit anderen Streikenden. Während ich langsam die Dimension der Zustände erfasste, war ich ein bisschen froh, dass mir nur noch zwei Wochen blieben.
Nun also war der letzte Tag gekommen und ich folgte meinen zwei Kolleg:innen in den Sitzungsraum. „Wie hat es dir hier gefallen?“, fragte mich der Kulturjourni und innerhalb von Sekunden befanden er, die Praktikantin und ich uns in einem so offen und ehrlichen Gespräch, wie ich es nicht hatte kommen sehen – zumal nicht in einem gläsernen, ringhörigen Raum, der an das Büro des stellvertretenden Chefredaktors grenzte. Und noch viel weniger auf Grund der Tatsache, dass wir bisher noch kein einziges persönliches Gespräch geführt hatten. Was ich dabei als erstes erfuhr: Auch die beiden hatten seit Monaten keinen Lohn erhalten. Ich war schockiert, war ich doch davon ausgegangen, dass diejenigen, die regelmässig zur Arbeit erschienen, bezahlt wurden. Die Praktikantin meinte, in ihrer Position würde sie eh nicht wirklich bezahlt, sie hätte aber nicht einmal Spesenentschädigungen erhalten. „Was hier passiert kann man nur Ausbeutung nennen“ sagte der Redakteur frustriert.
Wieso zur Hölle produzieren die beiden dann Woche für Woche fast im Alleingang den Kulturteil dieser Zeitung? Die Antwort ist banal und bezeichnend für die Verhältnisse in Nepal, wie ich in den vergangenen Wochen gelernt habe: Beide möchten im Ausland studieren und wollen sechs Monate Arbeitserfahrung bei der Kathmandu Post in ihrem Lebenslauf vorweisen können. Und beide hätten unter besseren Umständen gerne länger bei der Post gearbeitet.
Kaum eine junge Person, die ich in Nepal kennenlernte, die nicht entweder ins Ausland will oder bereits dort war. Zu düster sind die Perspektiven in Nepal. Und, wie es der Redakteur formuliert: „Wenn du mal weg bist, kommst du nicht wieder zurück.“ Wir unterhalten uns etwa eine halbe Stunde und ich erfahre so viel über die beiden und über die Kathmandu Post und über Kantipur und Nepal und bereue, dass dieses Gespräch nicht viel früher stattfand. Als wir uns verabschieden und Nummern tauschen bin ich sicher, dass es mit ihnen kein Wiedersehen geben wird, auch wenn es schön wäre. Mit Nepal hingegen… Sechs Wochen bei der Kathmandu Post waren genug, ja, doch habe ich das Gefühl, in Nepal erst gerade angekommen zu sein. Mal schauen.
Schreibe einen Kommentar