Der Glace-Held einer erfundenen Stadt

Der Klang der feinen Messingglocken vom Lenkrad des Fahrrads nähert sich. Héctor fährt auf der halbfertigen Strasse direkt auf uns zu. Er ist Eisverkäufer der Marke «Eskimo», seine Eisbox ist vorne auf seinem Gefährt befestigt, das gleichzeitig als Verkaufsstand dient. Héctor, das ist der furchtlose Kämpfer, der trojanische Heerführer aus der griechischen Mythologie – der Inbegriff des Helden. Und der Eismann aus Managua wird seinem Namen mehr als gerecht.

Vom Erdbebenhaufen in den Farbtopf

Er, der auf «Zwei-für-Eins-Aktionen» verweist und seinen KundInnen ab und zu eine Kostprobe offeriert, ist der einzige Eisverkäufer auf diesem staubigen Platz, wo unzählige Leute darauf warten, bis endlich etwas passiert. Der Einzige, der an diesem Ort überhaupt etwas Essbares verkauft.

Bild: Tanja Lander
Bild: Tanja Lander

Dieser Ort, das ist eine Fläche einige Kilometer ausserhalb der Hauptstadt, für die sich bis vor wenigen Monaten noch kein Mensch interessierte. Bis das Erdbeben im April kam und die Menschen, die in Managua bereits auf Erdbebentrümmern gewohnt hatten, endgültig kein Zuhause mehr hatten. Darauf beschloss Daniel Ortega, der Präsident Nicaraguas, ein neues Dorf zu bauen, oder besser: eine neue Stadt.

Hier, wo Héctor heute mit dem Fahrrad seine Runden dreht, sollen bald 4’000 identische Wohnhäuser für mindestens 12’000 Personen stehen. Am Rand Managuas, irgendwo, bekommen die Erdbebenopfer ein neues, buntes Reihenhaus geschenkt. Pünktlich zur Weihnachtszeit können die ersten 25 Familien einziehen, obwohl es eigentlich 450 hätten sein sollen. Doch man ist noch nicht soweit mit den Bauarbeiten.

Wo gehen die Kinder zur Schule?

Die ersten ZuzügerInnen lassen lange auf sich warten. Die Medien sind da, die Angestellten der Regierung für die Schlüsselübergabe, die Polizei und auch die Musikanlage funktioniert. Ein Propagandalied nach dem anderen schallt durch die noch leeren Häuserreihen, wo die Wächter einschlafen, weil sie nichts zu bewachen haben. Willkommen in Belén! Es ist ein Projekt, das Fragen aufwirft: Soll das die Lösung sein? Es gibt bisher keine Einkaufsmöglichkeiten in Belén und niemand weiss, wo die Kinder zur Schule gehen werden.

Eine grosse Anzahl der Umgesiedelten sind bereits arbeitslos, viele Mütter alleinerziehend, wo sollen sie hier eine Arbeit finden? Die Abschiebung an diesen Ort könnte sie noch stärker marginalisieren. KritikerInnen gehen zudem davon aus, dass viele Leute ihr Haus verkaufen werden, weil sie das Geld dringend brauchen. Es wird sich zeigen.

Drei Stunden in die Pedalen treten

Bis jetzt ist Héctor der Einzige, der auf diesem heissen, staubigen Platz eine sinnvolle Tätigkeit ausübt. Der Eismann kommt täglich hierher, seit die Bauarbeiten begonnen haben. Er habe davon gehört und entschieden,  den HandwerkerInnen Eis zu verkaufen. Ein gutes Geschäft, denn seit sie hier bauen, ist niemand sonst auf diese Idee gekommen. Jeden Tag fährt Héctor mit seinem Fahrrad anderthalb Stunden hin, anderthalb zurück, weil sein Zuhause am anderen Ende von Managua ist.

Mit sich führt er ausser dem Eis nur ein Ersatzrad und in einer kleinen Box ein bisschen Geld. Bei seinem Job verdiene er nur, wenn er auch etwas verkaufe, erklärt Héctor die Anstellungsbedingungen bei «Eskimo», umso wichtiger seien gute Verkaufsstellen.

Militärparade und Katzen

Nachdem fast alle Wartenden auf dem Platz mit mindestens zwei Wasserglace versorgt sind, tauchen die ersten Militärlastwagen auf. Rund 25 Stück stellen sich in Reih und Glied auf dem Platz auf, eine kurze Parade, bevor die ersten BewohnerInnen aussteigen und der emotionale Akt des Häuserbezugs seinen Lauf nimmt.

Die JournalistInnen stürmen den ersten Hausbesitzerinnen (sie werden ausschliesslich an Frauen verschrieben) von Belén hinterher, auf der Jagd nach Freudentränen und nach Militärmännern, die Hunde, Katzen und Möbel von den Lastern laden. Inzwischen ist es dunkel geworden, höchste Zeit für Héctor, sich auf den Heimweg zu machen. Anderthalb Stunden.

 

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