60 Stunden Shutdown
Vom 27. Bis 29. Oktober erlebte ich meinen ersten Hartal (Streik) in Bangladesch. An Hartaltagen werden die Leute aufgefordert zu Hause zu bleiben, da es zu Strassenschlachten zwischen den streikenden Parteien und den Sicherheitskräften kommen kann. Der neuste Hartal wurde von der Oppositionspartei BNP (Bangladesh Nationalist Party) und 18 verbündeten Parteien ausgerufen. Die Führerin der BNP und ehemalige Ministerpräsidentin Khaleda Zia hat zuvor die aktuelle Ministerpräsidentin Sheikh Hasina vergeblich dazu aufgefordert zurückzutreten und für die im Januar stattfindenden Wahlen eine unabhängige Regierung einzusetzen, so wie das bei früheren Wahlen jeweils drei Monate vor dem Urnengang der Fall war.
Am Sonntag halte ich mich vorerst an die Anweisungen und bleibe zu Hause. Als aber nichts Grobes passiert, drehe ich am Nachmittag eine kleine Runde durchs Quartier. Die Strassen sind fast leer und viele Geschäfte haben geschlossen. An den Kreuzungen stehen Polizisten und Angehörige der Sondereinheit RAB (Rapid Action Battailon). Ansonsten fällt mir nichts Ungewöhnliches auf.
Am zweiten Hartaltag nimmt mich Cheffotograf Enam mit auf Tour. Am Morgen fahren wir zusammen mit einem Reporter des Daily Stars in einem CNG zum Flughafen. Dort kommen gerade die gläubigen Muslime, die von der Pilgerreise nach Mekka, zurückkehren, an. Müde und mit viel Gepäck stranden sie am Flughafen. Denn wegen Hartal gibt es kaum Transportmöglichkeiten in die verschiedenen Dörfer und Städte.
Mittlerweile hat Enam erfahren, dass irgendwo in der Stadt ein paar Demonstranten im Anmarsch sind und ein Zusammenstoss mit der Polizei erwartet wird. Wir fahren hin und es kommt tatsächlich zu einem kleinen Scharmützel. Die Demonstranten werfen ein paar selbstgebastelte Bomben und Steine, werden aber sofort von der Polizei zurückgedrängt. Als wir nahe genug dran sind, um zu fotografieren, ist der Spuk schon vorbei. Einzig zwei noch nicht detonierte und in rotes Klebeband eingewickelte Bomben liegen noch auf der Strasse, werden aber sogleich von ein paar Anwohnern weggeräumt. Ein Schuhmacher sucht währenddessen den Inhalt seines Werkzeugkasten, der von den Demonstranten als Wurfgeschoss missbraucht wurde, zusammen.
Am letzten Tag des sechzigstündigen Hartals nimmt mich Amran auf seinem Motorad mit auf Tour. Vor dem Büro der BNP in Noya Paltan in Dhaka warten wir zusammen mit anderen Fotografen und Reportern auf Action. Doch es bleibt ruhig. Die Polizisten stehen in lockerer Manier bereit. Die meisten haben die kugelsichere Weste geöffnet, andere trinken Tee und essen Biskuit und ein weiterer nutzt die ruhige Phase, um seine Schuhe auf Hochglanz polieren zu lassen. Es ist ihm dann aber zu peinlich sich fotografieren zu lassen, wie er währenddessen in Hauslatschen danebensteht. Im Allgemeinen sind die Polizisten und Polizistinnen sehr freundlich und zugänglich. Sie lassen sich fotografieren, wollen wissen woher ich komme, freuen sich über jedes Wort, das ich in Bangla sage, und bieten mir Tee und Süssigkeiten an.
Später fahren wir ins Spital, wo ein neunjähriges Mädchen eingeliefert wurde, die von einer selbstgebastelten Bombe verletzt wurde. Sie hatte scheinbar gemeint, die rote Kugel, die da vor ihr auf dem Boden lag, sei ein Spielzeug. Als sie versuchte, das rote Klebeband wegzumachen, explodierte die Bombe und verletzte das Mädchen schwer. Sie verliert das rechte Auge und erleidet Verletzungen am linken Auge, beiden Händen und am Bauch. Als wir im Spital eintreffen, wird sie auf einer Barre durch den düsteren Gang geschoben. Wir und weitere Reporter und Fotografen folgen ihr. Ich bin einmal mehr erstaunt und schockiert, wie sensationslustig die Medien hier sind und wie skrupellos die Fotografen dem schwerverletzten Mädchen und ihrer völlig aufgelösten Tante ins Gesicht blitzen. Ich bin aber genauso erstaunt, dass Ärzte und Pfleger nichts dagegen unternehmen. Sie spielen teilweise sogar mit und rücken die Barre ein bisschen nach links oder rechts, damit das Licht besser ist, oder warten vor dem Lift, bis auch der letzte Fotograf sein Bild im Kasten hat. Unglaublich aber wahr: Am Ende steht die ganze Meute mit im Röntgensaal. Ich darf mich nicht rausnehmen, schliesslich war ich mit dabei und auch auf meinen Bildern ist das verletzte Mädchen zu sehen, ich habe aber vor allem das Gegenbild gesucht. Die Fotografen, die sich wie Aasgeier auf das Opfer stürzen. Mir ist aber klar, dass man, wenn man in Bangladesch als Fotojournalist im Tagesjournalismus bestehen will, genau diese Bilder liefern muss. Als ich am Nachmittag meine Bilder auf der Redaktion zeige, heisst es denn auch sofort: «Du stehst auf der falschen Seite, das ist nicht gut.». Ich versuche ihnen zu erklären, mir klar ist, dass es diese Bilder nicht in die Zeitung schaffen werden und ich dies auch nicht beabsichtigt habe. Für das was ich zeigen wollte, sind sie aber sehr wohl von der richtigen Seite her aufgenommen.
Am nächsten Tag prangt gross Amrans‘ Bild vom verwundeten Mädchen von der letzten Seite des Daily Star. Und oh Schreck, im Hintergrund stehe ich in meinem grünen Kleid… auf der falschen Seite. Damit es nicht so offensichtlich ist, dass eine absolute Anfängerin aus dem Westen, das Bild zerstört hat, hat der Grafiker meinen Kopf abgeschnitten.
Das landesweite Fazit des dreitägigen Shutdowns: Mehrere hundert selbstgebastelte Bomben, die explodierten, mindestens 16 Tote, über 1000 Verletzte, mehr als 150 zerstörte Fahrzeuge und über 250 Festnahmen von Regierungsgegnern.
Hartals haben auch wirtschaftlich negative Folgen. Der Export und Import ist praktisch lahmgelegt. Aber auch innerhalb des Landes ist es schwierig Güter zu transportieren. Enam und ich besuchen einen Fischmarkt, wo viele Auslagen momentan leer bleiben. Und auch Tagelöhner warten am Strassenrand vergeblich auf Jobs.
Es gibt aber auch einen positiven Aspekt von Hartals. Die Strassen sind praktisch leer und es ist für einmal ein Leichtes von A nach B zu gelangen.
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