Hinter den Mauern

In bolivianischen Gefängnissen ist der Staat absent, es herrscht eine von Schwerverbrechern orchestrierte Plutokratie. Mit Geld lässt sich hinter den Mauern praktisch alles organisieren. Für die Armen ist es die Hölle. Ein Streifzug.

Zumaya Toco Guarachi sitzt auf einem Bänkchen in einer evangelischen Kirche mit dem Namen „lebendige Hoffnung“, und vis-a-vis von ihr haben sich Männer in nicht ganz sauberen Kleidern in eine Schlange gestellt. „Bitte hab etwas Geduld“, sagt Zumaya zum Jüngling, der zuvorderst steht. Dann kommt der nächste dran. Dieser klaubt  ein Holzschiff in einer Glasflasche aus einem Plastiksack, er hat es selbst gemacht, und auch noch einen Holzständer dazu, in den er was eingraviert hat: „Helfen Sie mir, Doctora Zumaya, mein Schicksal liegt in Ihren Händen“.

Um diese Situation verständlich zu machen, ist wohl etwas Kontext hilfreich. Wir sind nicht in irgendeiner Kirche, sondern in jener von Palmasola, dem mit über 5000 Häftlingen grössten Gefängnis Boliviens, in der Stadt Santa Cruz im tropischen Tiefland. Was Palmasola mit den übrigen grösseren Haftanstalten des Landes gemeinsam hat: Gefängniswächter sucht man vergebens. Der Eingang wird von Polizisten bewacht, drinnen machen die Häftlinge das Gesetz. Wie ist das so gekommen? 1988 wurde in Bolivien das Gesetz gegen Drogenhandel in Kraft gesetzt. Waren zuvor vor allem Arme und Verwahrloste hinter Gitter, wurden nun plötzlich Personen eingesperrt, die viel Geld hatten. Und sie wollten es bequem haben hinter Gitter. Von korrupten Polizisten liessen sie sich Baumaterialien bringen, Fernseher, Fitnessgeräte, es entstanden Billiardsalons, Restaurants, eine Fussballfeld. Wer aus dem Gefängnis kam, verkaufte seine Zelle, beziehungsweise seine Wohnung weiter, es entstand ein veritabler Immobilienmarkt, und heute sieht der „Dorfplatz“ der grössten Abteilung des Gefängnisses so aus:

Palmasola 3Eine Herbalife-Kur, aber auch Waffen, Drogen, Prostituierte – hier drin kann man sich alles organisieren. Wenn man Geld hat. Hat man keins, muss man schauen, dass man zu welchem kommt. Indem man selbstgebastelte Schiffe verkauft, indem man Drogen dealt, indem man auf Auftrag Häftlinge misshandelt, es gibt viele Möglichkeiten. Die Disciplina, die Gefangenenorganisation, die das Zusammenleben hier organisiert, verlangt von jedem, der neu ankommt, erst einmal ein Schutzgeld. Und dann muss er eine Zelle mieten, will er nicht in der Kirche schlafen oder draussen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass in der Disciplina jene am meisten Gewicht haben, die am längsten da bleiben. Also: die Schlimmsten. Die Mörder, die Vergewaltiger.

Gewalt gibt es immer wieder in Palmasola, im August 2013 erreichte sie einen schlimmen Höhepunkt: Gefangene eines Sektors griffen jene eines anderen an, es ging wohl darum, wer die Schutzgelder erpressen darf, ein Polizist hatte den Angreiffern eine Tür zum anderen Block geöffnet. Über 30 Personen kamen ums Leben, unter ihnen ein kleiner Bub. Warum ein kleiner Bub? Allein in Palmasola leben hunderte Kinder und hunderte Frauen mit ihren eingesperrten Vätern beziehungsweise Männern. Sie können sich neben der Zellenmiete nicht auch noch eine Wohnung ausserhalb der Mauern leisten.

doctora zumaya en palmasolaZurück in die Kirche, wo Zumaya Toco Guarachi immer noch auf ihrer Bank sitzt, wie jeden Freitag, wenn sie ihre über hundert Klienten hier besucht. Sie ist eine Defensora Publica, eine unentgeltliche Anwältin. Angeklagte, die keine finanziellen Mittel haben, sind auf Anwältinnen wie sie angewiesen. In ganz Bolivien gibt es deren 84. Der Lohn von 14 von ihnen wird von der DEZA bezahlt – was auch der Grund ist, dass ich „Doctora Zumaya“, wie sie alle Häftlinge nennen, begleitet habe. Die Defensores Publicos gehen einer edlen Aufgabe nach – unter äusserst schwierigen Bedingungen. Das erste Problem: Obwohl ein Gesetz besagt, dass sie gleich viel verdienen müssten wie ein Staatsanwalt, verdienen sie nicht die Hälfte. Von ihrem Lohn müssen sie auch noch die Transporte zu den Gefängnissen bezahlen und die Kopien der Akten ihrer Klienten. Kein Wunder, sind fast alle ziemlich jung. Sobald sie einen anderen Job finden, sind sie weg. „Was wir hier tun, ist wie ein zusätzliches Studium. Man lernt das System sehr gut kennen“, sagt Zumaya. Aber sobald sich ihr eine Tür öffnet, wird sie sofort den Job wechseln.

In den bolivianischen Anstalten gibt es Platz für knapp 5000 Häftlinge. Eigentlich. Im Moment sind in diesen Gefängnissen über 15 000 Insassen eingesperrt. Überfüllt sind alle, manche weniger, andere mehr. Die Anstalt im Kleinstädtchen Montero, eine Stunde entfernt von Santa Cruz, gehört zu den anderen. Für 30 Insassen gebaut, beherbergt sie über 300. Rund um einen kleinen Innenhof sind die überfüllten Zellen angelegt, eine ist für Frauen reserviert, deren 27 sind es im Moment, deutlich mehr, als es Pritschen gibt. Während einer Stunde dürfen die Häftlinge ihrer Zellen verlassen und versammeln sich im Hof, um ihre Suppe zu essen – Frauen und Männer, Drogendealerinnen und Vergewaltiger, alle in einem Hof, eine Trennung nach Geschlecht oder Gefährlichkeit oder Delikt gibt es nicht.

elbote3Doch dann gibt es auch noch die, die dürfen nicht einmal während dieser einen Stunde aus ihrer Zelle. Sie sind in el bote, der „Büchse“, einer Zelle, die keine zehn Quadratmeter gross ist. 15 Minuten pro Tag dürfen sie raus, um sich zu erleichtern und sich mit Wasser abzuduschen. Das ist es. Betten gibt es ebenso wenig wie Decken, wobei letztere wenig brächten, da die „Büchse“ über 40 Grad heiss wird, wenn sie voll ist. Sechs Häftlinge schlafen in drei Hängematten, der Rest döst nachts sitzend vor sich hin, Schulter an Schulter. Ich habe mich lange mit ihnen unterhalten, durch die Gitterstäbe. Sie redeten durcheinander, alle wollten gleichzeitig erzählen, was ihnen angetan wird – es schien nicht, als komme oft jemand vorbei, um sie zu fragen, wie es ihnen so gehe. Es ist nicht etwa so, dass die Jungs und Männer hier drin besonders schwere Delikte begangen haben. Einer hat Feuerholz geklaut, ein anderer verbotenerweise in einem verlassenen Haus geschlafen. Ihr Vergehen ist, dass sie keine Verwandten haben, die ihnen Geld bringen. Denn aus der „Büchse“ raus kommt man nicht umsonst.

elbote6reo de monteroGratis gibt es im Gefängnis von Montero ein Brot mit Tee am Morgen und eine Suppe am Mittag. Alles andere kostet. Das Abendessen muss man sich kaufen, die Zahnbürste, kommt Besuch, bezahlt er, will der Häftling aus der Zelle, um ihn zu empfangen, bezahlt er nochmals. Wer eine Verhandlung hat, lässt am Besten im Vorfeld dem Richter und dem Staatsanwalt etwas zukommen, damit sie auch auftauchen. Dann muss er zwei Polizisten bezahlen, damit sie ihn zum Gericht bringen, und zwar in einem Auto, das der Häftling selbst mieten muss. Wer nicht einmal die hundert Bolivianos aufbringen kann, damit die Gefängnissekretärin überhaupt den Computer startet, bleibt einfach drin. Über Jahre, manche länger, als die Höchststrafe für das Delikt betragen würde, das sie vielleicht gar nicht begangen haben. Das weiss man meistens nicht, den eine Verurteilung haben die Meisten nicht: 81 Prozent der bolivianischen Insassen sind nicht verurteilt, sondern Untersuchungshäftlinge – die höchste Quote in Südamerika. Das hat mit dem unwahrscheinlichen Rückstand der bolivianischen Justiz zu tun. Ende letzten Jahres waren in Bolivien 330 000 Gerichtsfälle pendent. Um diese innert drei Jahren abzuarbeiten, müssten die weniger als 900 Richter des Landes 300 Urteile pro Tag fällen. Ein Angeklagter, der viel Geld hat, kann seinen Prozess beinahe nach Belieben in die Länge ziehen oder forcieren, je nachdem was ihm mehr dient. Gemäss Transparency International betrachten 76 Prozent der Bolivianer die Justiz als korrupt, gar 86 Prozent bezeichnen die Polizei als käuflich.

 

llanos 1In Bolivien aber sind die unwahrscheinlichen Zustände in den Gefängnissen und in der Justiz nur sehr begrenzt Thema eingehender, reflektierender Debatten. Viele haben Angst, öffentlich ihre Meinung zu äussern, sich gegen die mächtigen Institutionen zu stellen, gegen die Justiz und die Polizei. Viele, aber nicht alle. Nicht Ramiro Llanos, der schon zweimal Direktor des bolivianischen Strafvollzugs war. Beide Male haben ihm seine Bemühungen, tatsächlich etwas zu verändern – die Polizei durch Zivile zu ersetzen, den Schmuggel in die Gefängnisse zu unterbinden, Kameras in den Büros der Richter zu installieren, solche Dinge – seinen Posten gekostet. Aber er sagt immer noch, was er denkt.

Zuletzt in einem Interview mit mir, das ich zusammen mit einer Reportage in der Sonntagsbeilage zu Politik und Gesellschaft von Pagina Siete veröffentlicht habe:

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