Der Unterschied – Wie Kultur Welten trennt und verbindet
Meine Zeit in Nepal neigt sich dem Ende zu und vielleicht das überraschendste Ergebnis ist meine neu gefundene, beziehungsweise aufgefrischte Liebe zu Kunst und Kultur.
Natürlich habe ich die Plädoyers der Kulturschaffenden für Unterstützung während der Pandemie wohlwollend nickend gelesen. Ich war ganz ihrer Meinung, dass man sie nicht abserbeln lassen sollte. Kultur ist ganz grossartig, ich konsumiere sie manchmal auch gerne. Aus irgendeinem Grund tue ich mir den Zürcher Wohnungsmarkt ja noch an (ok, ich lebe in einer Wohnung, die mir Mutter vermittelt hat, aber trotzdem). Irgendwo in einem dunklen, konservativen Winkel meines Herzens fand ich es eventuell aber auch ein klitzeklein wenig pathetisch, wenn sich die schleudernden Künstler:innen den Leim der Gesellschaft oder Ähnliches nannten. Wie so oft brauchte es eine Verlusterfahrung, um zu realisieren, dass ein konservativer Winkel des Herzens falsch lag. Und diese Verlusterfahrung hat mir Nepal gegeben.
Du siehst aus, wie ich mich fühle. (Foto: Xenia Klaus)
Wenn Leute von kulturellen Unterschieden sprechen, zieht sich alles in mir zusammen, weil ich erwarte, dass es gleich darum geht, warum man von Muslimen angeblich nichts anderes erwarten kann, als dass sie Frauen belästigen, weil’s im Koran stehe, die Bibel hingegen ein Leuchtfeuer der Gleichstellung sei. Aber. Ich habe unterschätzt, wie gross kulturelle Unterschiede – im Sinne von Unterschieden in den konsumierten künstlerischen Inhalten – tatsächlich sein können. Und ja, auch das hätte ich wissen können, weil ich mindestens 1000 Mal zu Texten vermeintlich verständnisvoll genickt habe, die sich über ein eurozentristisches Verständnis von, naja, so ziemlich allem, aber vor allem auch Kunst, ausgelassen haben. Vielleicht merke ich es besonders, weil ich hier in Kathmandu dem Kulturressort angeschlossen bin. Aber nicht alle Bildung ist universell. Nach jedem nepalesischen Referenzrahmen, den man anwenden kann, bin ich ein kulturell komplett ungebildeter Mensch, eine Analphabetin.
Where you lead, I will follow
Es war fast egal, wo mich das Kulturressort hingeschickt hat: Ich war inkompetent aus Mangel an Bildung. Ein Format, dass die Kathmandu Post kennt, ist der Book-talk. Man spricht mit mehr oder minder bekannten Menschen darüber, wie und welche Bücher sie geprägt haben. Ich habe mit Sunil Babu Pant gesprochen – gemäss einer Praktikantin «the most famous gay person», eine Ikone der hiesigen LGBT-Bewegung. Man sagt, er habe einen riesigen Beitrag dazu geleistet, dass Nepal eine gleichgeschlechtliche Ehe und die Möglichkeit eines dritten Geschlechtseintrages kennt. Natürlich habe ich den Namen noch nie gehört, bevor ich ihn per Zufall kennengelernt habe. Und dann sitzt er mir gegenüber, um mir zu erzählen, welche Bücher ihn geprägt haben.
Ausschnitt aus einem Werk des Künstlers Tsherin Sherpa. (Foto: Xenia Klaus)
Babu Pant ist ein tief spiritueller Mensch. Er hat sich auch mal zum buddhistischen Mönch ausbilden lassen. In seinem Kopf, wie in ganz Kathmandu, fliessen Buddhismus und Hinduismus zusammen. Er erzählt, wie er ab seinen Teenagerjahren obsessiv Schriften beider Religionen konsumiert hat. Einmal erwähnt er Hermann Hesse und Siddharta. Ansonsten kenne ich keinen einzigen Namen und kein einziges Buch, das er nennt. Obwohl das – glaube ich – absolute Klassiker sind. Und noch schlimmer: Ich kenne nicht nur die Namen nicht. Ich verstehe sie noch nicht einmal. Sie sind so lang und so fremd in meinen Ohren. Keine Ahnung, was ich in meinen Notizblock schreiben soll, um danach meine Wissenslücken mit Google wenigstens auf ein publizierbares Niveau kaschieren zu können. Ich gebe mein Bestes, phonetisch wiederzugeben, was ich höre, und hoffe auf die Fortschritte der Suchmaschinen-AI. Babu Pants Antworten einzuordnen und vielleicht sogar schlaue Rückfragen zu stellen, ist undenkbar.
Ähnlich in einer Ausstellung: Ich stehe vor diesen Bildern, wiederum gespickt mit Referenzen an Hinduismus und Buddhismus, stelle den Künstler:innen die dümmsten Fragen aller Zeiten und sehe, wie sich in ihren Augen die Unsicherheit, ob ich wirklich und tatsächlich Journalistin bin, wie eine Ölpfütze ausbreitet. Ich bin nicht ungebildet, will ich ihnen zurufen. Eine Jesus-Referenz würde ich verstehen (vielleicht)!
Warm für November, oder?
Und es ist nicht nur der Arbeitskontext betroffen. Wenn in Zürich ein Small-Talk ins Stocken gerät, mache ich eine Gilmore Girls Referenz und etwa die Hälfte der Bevölkerung in meinem Alter und ich werden eine gemeinsame Gesprächsgrundlage haben. Und es hilft mir gleich als erster Indikator dafür, ob es sich überhaupt lohnt, Small-Talk zu betreiben. Wer meint, er müsse Gilmore Girls belächeln aber Scrubs bis heute abfeiern, in dem werde ich relativ unverhohlen einen Sexisten vermuten.
Hier wären es Bollywood-Filme, die mich retten würden. Ich habe keinen einzigen gesehen, bevor ich angekommen bin. Und die drei, die ich nun konsumiert habe, reichen nirgends hin. Ich sitze also hilflos daneben, während andere Leute sich einander nah fühlen, weil sie mit 16 und halbheimlich bis heute den gleichen Star «verdammt hot» fanden; und in eine hitzige Debatte zur Entwicklung diesen oder jenen Charakters abdriften, und dann über noch mal etwa zwei Ecken auf die Beziehung zu den Eltern und/oder die Entwicklungen an der COP in Aserbaidschan zu sprechen kommen. Hier bin ich für Small-Talk also zurückgeworfen aufs Wetter. Und sogar dort habe ich keine Ahnung. Denn, wenn man in Kathmandu übers Wetter spricht, spricht man eigentlich eher über die Luftverschmutzung. Und auch damit habe ich herzlich wenig Erfahrung. Der beliebteste Sport ist Cricket, auch nicht gut für mich.
Erst hier in Nepal habe ich wirklich gelernt, wieso Kultur wirklich unverzichtbar ist – man verzeihe mir an dieser Stelle den Pathos, den ich an anderen verurteilen würde: Kultur ist ein Fundament, auf dem man einander begegnen kann. Vielleicht auch eher so etwas wie eine Gehhilfe, die sich eine Spezies mit mangelhaften sozialen Fähigkeiten selbst gegeben hat. Ich habe gelernt, dass diese Gehhilfen nicht überall dieselben sind und es ein Gefühl der Hilflosigkeit ist, jene, die man sich gewohnt ist, zu verlieren.
Besten Dank an Nepal. Dafür, und für das gute Essen.
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