Die Festtage fordern Traditionen heraus
Schaukeln, Drachenfliegen und Essen mit der Familie: Beim scharfen Blick auf alte Bräuche zeigt sich der gesellschaftliche Wandel in Nepal.
Vier grosse(!) Bambusrohre in den Boden gerammt, an den Spitzen paarweise zusammengebunden, ein kürzeres Rohr quer darüber, ein Seil daran gebunden – fertig ist die Kinderschaukel. Zu Dashain – den wichtigsten Feiertagen im Land – stehen sie plötzlich überall, auf Brachflächen zwischen den grössten Strassen der Grossstadt, zwischen Wohnhäusern in den Quartieren und auf staubigen Wegen in Weilern auf dem Land.
Es soll Glück bringen, an Dashain zu schaukeln, und man hat es schon immer gemacht. Kinder und junge Erwachsene stehen Schlange, und auch die Schweizer werden zum Mitmachen eingeladen. Diese eine Tradition zumindest scheint die grossen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte in Nepal unbeschadet überstanden zu haben.
Luftkämpfe
Die andere typische Dashain-Aktivität, Drachenfliegen, sehen wir zwar auch immer wieder. Doch ältere Menschen erzählen, wie früher an Dashain noch viel mehr Drachen in den Himmel stiegen. Man liess sie gegeneinander ankämpfen, und wenn dabei die Schnur des einen riss, versuchte man, den zu Boden fallenden Drachen zu holen – wie es der Film «Kite Runner» aus Afghanistan zeigt.
Heute aber tragen die Kinder ihre Kämpfe zunehmend am Bildschirm statt am Himmel aus. Zudem ist Kathmandu enorm gewachsen und dichter geworden, nur mit Mühe lässt sich noch Platz fürs Drachenfliegen finden.
Geschlechterrollen
Da trifft es sich gut, dass die meisten über Dashain die Stadt verlassen. Alle haben ein paar Tage frei, mit Ausnahme geschäftstüchtiger Taxifahrer, Shopbesitzer und Restaurantbetreiber (auch hier wird die Tradition aufgeweicht). Man fährt zur Familie, und die wohnt meist noch auf dem Land. Wobei mit «Familie» natürlich diejenige des Mannes gemeint ist, die Ehefrau kommt selbstverständlich mit zu ihren Schwiegereltern. Falls sie ihre eigenen Eltern besuchen will, kann sie dies bestenfalls nachher tun.
Dieses patriarchalische Modell passt allerdings nicht zum Leben moderner Frauen in der Stadt, das sich zunehmend einer Gleichberechtigung der Geschlechter nähert, die aufzugeben sie nicht bereit sind. So treten wohl beim einen oder anderen Festessen Spannungen zu Tage, wie sie ja im Westen an den Weihnachtstagen auch keine Seltenheit sind.
Wenigstens herrscht noch Einigkeit darüber, was auf den Tisch kommt – oder zumindest in den Magen (ein Tisch gehört auf dem Land nicht zur Grundausstattung einer Behausung): Ziegenfleisch. Auf unseren Wanderung im Umland von Nagarkot stossen wir immer wieder auf blutbefleckte Erde und herumliegende Knochen von den geschlachteten Tieren. Foto gibt es hier keines – an Dashain hat auch der Journalist mal frei und darf ohne Fotoapparat raus.
P.S. Wer Ziegenblut sehen will, kann stattdessen einen Blick auf den Blog von Samuel Schumacher, meinem Vorgänger bei der Kathmandu Post, werfen.
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