Fitnesspausen, Emojis und Freiheit: Mein Leben in der Onlineredaktion in Peru
Durchschwitzt von der dichtgedrängten Busfahrt, eile ich auch nach einigen Wochen manchmal noch zehn oder sogar 20 Minuten zu spät ins Büro. Wie unangenehm! Das entspricht so gar nicht der Schweizer Pünktlichkeit. Der Weg zur Arbeit ist aber auch ein Abenteuer für sich: Bevor ich überhaupt in den Bus einsteigen kann, reiht sich eine lange Schlange an der Haltestelle. Und sobald die Türen sich öffnen, wird geschoben und gedrängelt. Für einen Weg von sieben Kilometern brauche ich manchmal eine Stunde, ab und zu aber auch zwei, was einen pünktlichen Arbeitsbeginn, der mir in der Schweiz immer sehr wichtig war, fast schon unmöglich macht. Meinen Teamkollegen geht es nicht anders und ein leicht verspäteter Arbeitsbeginn ist hier fast schon Normalität.

Dass ich den Bus nehme, wirkt laut meinen Arbeitskollegen sehr «unschweizerisch». Aber ich möchte hier eben nicht als Touristin unterwegs sein, sondern in die peruanische Kultur eintauchen, und wie eine Einheimische leben. Zudem könnte ich zu Stosszeiten auch im Taxi dem beinahe endlos langen Stau, der mich in der Schweiz an die Blechlawine zu Ostern vor dem Gotthardtunnel erinnert, nicht entfliehen. Gehupe, Gefluche und das alltägliche Verkehrschaos gehören hier ganz selbstverständlich dazu und sind mittlerweile Teil meines morgendlichen Pendelrituals geworden. Statt nervös auf die Uhr zu schauen, lerne ich, die Dinge «tranquilla» zu nehmen – ein Ausdruck, der Gelassenheit bedeutet und das Lebensgefühl Limas gut zusammenfasst.
Stauanfälligste Stadt Lateinamerikas
Nach einer kurzen Recherche wird mir klar: Ich bin in der stauanfälligsten Stadt Lateinamerikas gelandet. Laut dem aktuellen Ranking des Navigationsgeräteherstellers Tomtom beträgt der Zeitverlust in Lima 157 Stunden pro Jahr, zehn Kilometer zurückzulegen, dauert mehr als 28 Minuten und katapultiert die Hauptstadt Perus auf Rang fünf der Städte mit dem grössten Staurisiko weltweit.
Emoji-Flut auf Slack am frühen Morgen
Auf der Redaktion angekommen, folgt auf den persönlichen Begrüssungskuss auf die Wange, an den ich mich in den letzten Wochen gut gewöhnt habe, die virtuelle Begrüssung auf Slack im Teamkanal. Auf die Ankündigung im Redaktionskanal, dass ich mit der Arbeit beginne, erwartet mich eine bunte Emoji-Flut von meinen Kolleginnen und Kollegen: Smilies, Herzchen, das Schweizer Wappen, Daumen hoch und manchmal ein paar scherzhafte Symbole. Man kann gar nicht anders, als hier in den Tag zu lächeln.

Sport und der Arztbesuch im Grossraumbüro
Ein wöchentlicher Fixpunkt bei La República ist die «activación» – eine kurze, gemeinsame Fitnesspause. Alle Mitarbeitenden stehen auf, dehnen sich und lockern ihre Muskeln. Die Dehnübungen werden enthusiastisch mitgemacht, während bei den Kniebeugen regelmässig gemeinsames Stöhnen durch den Raum ächzt. Die Fitnesspausen im Büro kommen nicht von ungefähr, sondern bieten zahlreiche Vorteile: Laut Experten für Arbeitsmedizin und Gesundheit fördern kurze Bewegungseinheiten nicht nur die Konzentration und Produktivität, sondern beugen auch Rückenbeschwerden und Verspannungen vor, die durch langes Sitzen entstehen. Zudem kann die Steigerung der körperlichen Aktivität während des Arbeitstags das allgemeine Stresslevel senken und die Motivation der Mitarbeiter langfristig erhöhen.
Ein weiteres Unikum: Der Arztbesuch im Grossraumbüro, bei dem Blutdruck und Gewicht gemessen werden. Hier wird offen über die Ergebnisse diskutiert und herzlich kommentiert. Eine gesellige Szene, die für mich anfangs völlig ungewohnt war.

(Foto: Jennifer Valqui)
Selbstorganisation statt täglicher Redaktionssitzungen
In der Redaktion gibt es keine festen Meetings, an denen über Themen diskutiert wird. Stattdessen läuft alles über Slack. Jeder Mitarbeitende setzt die Geschichten eigenständig um, und jeder postet direkt im Chat, worüber gerade geschrieben wird.
Während meiner Ausland-Stage wird die Struktur der Redaktion neu organisiert, und die Ressorts USA und Welt/Wissenschaften agieren nun unabhängig voneinander. Das eigenständige Team USA überrascht mich. In der Schweiz begegnet man solch einem Ressort nicht unbedingt, aber hier zieht alles, was mit den Vereinigten Staaten zu tun hat, eine grosse Leserschaft an. Der «amerikanische Traum» ist in Peru sehr präsent. Die Vereinigten Staaten stehen für viele Peruaner für Chancen und Aufstieg. Geschichten aus den USA berühren und inspirieren, was sich in der hohen Nachfrage für diese Inhalte zeigt.
Das inoffizielle Schweiz-Ressort
Durch die Aufsplittung der Ressorts widme ich mich nun vollumfänglich internationalen und Wissenschafts-Themen. Mal schreibe ich Porträts über die Nobelpreisträger für Print, an anderen Tagen fokussiere ich mich auf die Schweiz. Denn diese scheint neben dem primären Fokus auf Lateinamerika, auch sehr zu interessieren. Ob es ein internationales Ranking ist, das die Schweiz als eines der besten Länder kürt, oder ein technologisches Thema, wie die Einführung der Suizid-Kapsel – meine Heimat ist oft im Fokus. So bin ich mittlerweile quasi zur inoffiziellen Leiterin des «Schweiz-Ressorts» geworden und geniesse die Freiheit, meine eigenen Perspektiven und Themen einzubringen. Von meinen Erfahrungen als Schweizerin in Lima bis hin zu Geschichten rund ums Reisen – eine Leidenschaft, die ich mir als Weltenbummlerin kaum verkneifen kann. Ich schätze diese Möglichkeiten sehr und nutze sie, um einen Hauch von Schweizer Einblick in die peruanische Lesewelt zu bringen.

«La Suiza más chévere del Perú»
Ein paar Wochen bei La República, und schon hatte ich einen Spitznamen: «La Suiza más chévere del Perú» – die coolste Schweizerin in Peru. Zugegeben, das war ein leicht gewonnener Titel. Schliesslich kennen meine Teamkolleginnen und Teamkollegen kaum eine andere Schweizerin. Doch inmitten der quirlig-warmen Redaktionsgemeinschaft erinnert mich dieser humorvolle Übername daran, wie herzlich mich die Redaktion im Team aufgenommen hat.
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