Grosses Vertrauen in die Journalist:innen der kenianischen Medien
In der kenianischen Stadt Nakuru hat die Polizei einen 19-Jährigen festgenommen, der vier Frauen umgebracht haben soll. Es gibt noch keine Verurteilung. Bewiesen ist nichts. Doch “The Standard”, die Zeitung, bei der ich arbeite, und andere lokalen Medien, veröffentlichen am Tag darauf ein Bild des Verdächtigen. Und seinen Namen.
Der junge Mann soll unter anderem eine 28-Jährige vergewaltigt und mit einem Rungu – einer Art Schlagstock – getötet haben. Er wird verdächtigt, ein fünf Jahre altes Kind ermordet und in einem Maisfeld verscharrt zu haben.
Gemeinsam mit den kenianischen Journalisten verfolgen wir die Polizei mit unserem Jeep über Schotterstrassen, um etwas von den Ermittlungen mitzubekommen. Der verdächtige Serienmörder sitzt im Polizeiauto. Der Weg führt uns zum Haus, wo er gewohnt haben soll und später zum Leichenschauhaus. Die Polizei toleriert das. “Machen wir immer so”, sagt mein Arbeitskollege. “Die Polizisten fassen für uns sogar oft zusammen, was die Verdächtigen sagen”.
Es ist mein zweiter Tag beim “Standard”. Hier gibt es keine Mediensprecher der Polizei, die sagen: “Laufende Ermittlungen. Können wir nicht kommentieren.” Trotz Unschuldsvermutung publizieren die Zeitungen Bilder von Verdächtigen. Zitate will hier niemand gegenlesen. Und auch sonst ist vieles anders.
Alex Kiprotich, Bürochef der Redaktion in Nakuru, sagt: “Wir müssen kontrollieren, dass die Polizei ihre Arbeit richtig macht. Die Leute auf der Strasse können nichts gegen die Polizeigewalt tun. Wir Medien schon.”
Die Menschen vertrauen hier wegen der Korruption eher den Medien als der Polizei und der Regierung. So kommt es, dass Journalist:innen vom “Standard” oft vor der Polizei von Einbrüchen wissen. “Es könnten ja die Polizist:innen selbst gewesen sein, die eingebrochen sind”, sagt Kiprotich.
Interviews vor dem Grab sind keine Seltenheit
Das grosse Vertrauen in die Medien erlebe ich auch bei einer Beerdigung, die wir am Tag darauf besuchen. Ein Vater von drei Kindern wurde ermordet, weil die Täter sein Land klauen wollten. “Landgrabbing” ist hier bei fast jeder Redaktionssitzung ein Thema. Nach der Beerdigungs-Zeremonie stellen wir die TV-Kamera auf und machen direkt vor dem Grab Interviews mit den Gästen. Ich fühle mich unwohl, doch dann höre ich, wie dankbar die Menschen sind, dass sie sich äussern können, sogar in dieser Situation der Trauer.
“Wir Medien sind das Sprachrohr der Sprachlosen, weil das politische System kaputt ist”, sagt Alex Kiprotich. Mit Journalist:innen zu sprechen, sei für viele Kenianer:innen eine der einzigen Möglichkeiten, direkt Kritik an der Regierung zu äussern und Druck auszuüben.
Oft wenden sich die Menschen bei Interviews mit ihren Statements direkt an die Politiker:innen. In Kapau, einer abgelegenen Region die wir zu siebt in einem Geländewagen mit fünf Plätzen erreichen, gibt es viele Malaria-Patienten. Mütter mit ihren Kleinkindern kauern wegen der Hitze im Schatten. Infusionen sind an Büschen befestigt. Abraham Arektum, ein Labortechniker, der sich aus der Not heraus um die Kranken kümmert, weil es in der Nähe kein Spital gibt, sagt in die Kamera: “Ich fordere das Gesundheitsministerium auf, uns mit Mückennetzen und Medikamenten zu versorgen.”
Bürochef Alex Kiprotich sagt: “Die Menschen kämpfen, um gehört zu werden.” Dass merke ich auch, als Journalisten vom Standard über einen Busunfall berichten. 13 Menschen sterben bei einem Crash in der Nacht. Mein Arbeitskollege ruft beim lokalen Krankenhaus an und kann noch am gleichen Tag Verletzte im Spitalbett mit der Kamera interviewen, welche die Transportfirma anschuldigen. Hier ist das weder respektlos, noch vom Datenschutz her problematisch.
Journalist:innen stellen wenige kritische Fragen
Als Kenia noch ein Einparteienstaat war, gab es nur den Staatssender, der berichtete, was die Regierung wollte. Mit dem Aufschwung der unabhängigen Medien sei das Verhältnis der Bevölkerung zu den Medien viel besser geworden, sagt Alex Kiprotich. Allein in der Stadt Nakuru, die eine halbe Million Einwohner hat, gibt es heute zehn Fernsehsender, drei nationale und drei lokale Zeitungen. Kiprotich sagt, es sei sehr wichtig, die Beziehungen zu den Quellen zu pflegen. Die Journalist:innen sind dazu angehalten, ihre Mobilnummer möglichst breit zu streuen.
In Nakuru eine Quelle zu finden, ist nicht schwer. Als wir eine Lehrerin interviewen, die mit anderen einen Streik ankündigt, will sie uns gleich ihre Nummer geben und verspricht, uns bald eine Geschichte zu stecken, welche “viele Leute inspirieren wird”. Alex Kiprotich sagt, oft würden die Menschen aus Nakuru sogar direkt auf die Redaktion kommen, um ihre Geschichten vorzuschlagen.
Was mir auffällt, ist, dass das grosse Vertrauen der Menschen in die Medien auch damit zusammenhängt, dass die Journalist:innen hier selten wirklich kritische Fragen stellen. Meistens schalten sie das Mikrofon ein und hören vor allem zu. Dass eine interviewte Person durch eine Frage verärgert ist, habe ich noch nicht erlebt. Und oft kommen die Journalist:innen den Menschen entgegen. An einer Universität machen wir etwa TV-Interviews um ein neues Artificial-Intelligence-Programm für Frauen vorzustellen. Als wir fertig sind, kommt eine Frau auf uns zu und bittet uns, noch einen weiteren Professor zu interviewen, der wichtig sei. Minuten später spricht er in die Kamera und kann seine Botschaft ohne Gegenfrage platzieren.
Alex Kiprotich sagt: “Wir sind momentan vielleicht nicht so mutig wie wir sein sollten.” Investigativ-Journalismus kostet viel Geld und brauche Zeit. Wie alle anderen Medienhäuser in Kenia hat auch die Standard Group finanzielle Probleme. “Die Eigentümer und Journalist:innen müssen zwischen dem öffentlichen und dem kommerziellen Interesse abwägen”, sagt der Bürochef. Bestrebungen sind vorhanden. Gerade arbeite die Mediengruppe daran, wieder ein Desk für Investigativ-Journalismus aufzubauen. Und während meines Aufenthalts in Nakuru geht eine Journalistin auf eine mehrtägige Recherche-Reise für ein Investigativ-Projekt.
Dass die Menschen hier dem “Standard” vertrauen, heisst nicht, dass sie die Zeitung auch kaufen. “So sehr sie wollen – für viele Kenianer:innen liegt das finanziell nicht drin”, sagt Kiprotich. Es gäbe aber eine Ausnahme: Wenn sie im “Standard” vorkommen, würden viele alles tun, um sich die Zeitung zu kaufen. Wenn auch nur diese eine Ausgabe.
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