Karneval und Katastrophe

Die Explosion geschah um 18.45. Ich war nur wenige Strassenzüge entfernt, doch ich hörte den Knall nicht. Ich steckte im Karnevalsumzug und versuchte, mich an einer Band vorbeizuzwängen, die dröhnend und scheppernd durch die Strassen marschierte. Ich war abgekämpft und müde, ich wollte nach Hause. Die Redaktion hatte mich nach Oruro geschickt, in die Karnevalshauptstadt Boliviens. Ich sollte eine Reportage schreiben über Tänze, Trachten und die Atmosphäre an einem der farbenprächtigsten Feste in Lateinamerika. Eindrücklich würde es werden, hatte die Chefredaktorin gesagt. Sie hatte recht, doch sie hatte an eine andere Form von eindrücklich gedacht.

Wir fuhren um halb vier in der Nacht los, drei Fotografen, ein Journalist und ich. Ich hatte kaum geschlafen, weil wir am Abend vorher mit der Redaktion Karneval gefeiert hatten. Ich hatte das grösste Steak meines Lebens gegessen und zugehört, wie zwei Redaktionskollegen Schnitzelbänke sangen, bei denen ich keine der Pointen verstand. Die Fahrt nach Oruro dauerte vier Stunden. Ich versuchte ein wenig Schlaf zu kriegen, während wir über das leere Altiplano fuhren und die Sonne über den Bergen aufging.

Im Karnevalsumzug.

Als wir am frühen Morgen in Oruro ankamen, tanzten bereits die ersten Karnevalsgruppen an noch leeren Tribünen vorbei. Wir betraten das Pressezentrum, in dem eine Titelseite der „Basler Zeitung“ an der Wand hing. Das sei die beste Zeitung der Schweiz, habe er gehört, sagte der Verantwortliche, während er die Akkreditierungen ausdruckte. Ich war noch benommen, mein kurzer Analyseversuch zur Schweizer Presselandschaft überzeugte weder den Verantwortlichen noch mich.

Aufgekratzte Touristen, abgekämpfte Tänzerinnen

Die nächsten Stunden verbrachte ich als Festreporter im Umzug. Ich sprach mit aufgekratzten Touristen und mit abgekämpften Tänzerinnen, deren Schminke bereits am Morgen auf dem Gesicht zerlief. Kinder spritzten mich mit Schaum voll. Ein Trupp von Polizisten prüfte meinen Ausweis, sie sagten, sie hätten die Aufgabe, ausschliesslich Ausländer zu kontrollieren. Mein Fotograf wurde wütend, er herrschte die Polizisten an, was ihnen einfalle, so zu diskriminieren. Falls die Polizisten eine Miene verzogen, war das hinter ihren Sonnenbrillen nicht zu erkennen. Der nächste Polizist wollte uns aus dem Umzug werfen. Diesmal geriet der Fotograf in Rage, er schrie den Polizisten an, es sei sein verfassungsmässiges Recht, als Pressevertreter an dieser Stelle zu stehen. Ich stand leicht ratlos daneben, während sich Polizist und Fotograf mit Blicken zu töten versuchten. Ein Vorgesetzter beruhigte schliesslich die Situation und den Fotografen, der nervös an seiner Zigarette saugte.

Eine Karnevalsgruppe in Formation.

Nach zwei Stunden stieg ich in die Seilbahn, die zu einer riesigen Marienstatue auf einem Hügel führt. Mein Kopf dröhnte, ich brauchte einige Minuten Ruhe. Von oben betrachtete ich, wie Feuerwerkskörper aufstiegen und die Kabinen der Seilbahn nur knapp verfehlten. Die Musik war auch auf dem Hügel so laut hörbar, dass die niedrigen Backsteinhäuser zu zittern schienen.

Am Mittag war ich zu müde, um essen zu können. In drei Stunden musste ich meinen Artikel geschrieben haben. Ich klingelte beim Pressezentrum, doch niemand öffnete. Ich irrte durch die Stadt auf der Suche nach einem Ort, an dem ich schreiben konnte. Wieder wurde ich mit Schaum vollgespritzt, meine Haare und Kleider waren erst weiss, dann durchnässt. Eine weitere Begegnung mit einer Polizistin, sie erklärte mir, sie könne mich nicht passieren lassen, mein Presseausweis sei offensichtlich gefälscht. Ich fand eine Hotellobby, schrieb dort, schickte den Text, trank ein Bier, wollte nach Hause.

Die Marienstatue in Oruro.

Weitertanzen, weitertrinken

Die Fotografen hatten ihre Bilder bereits gemailt und warteten auf mich. Ich kämpfte mich wieder durch den Umzug, vorbei an Trachten und Trompeten. Es war 18.45, der Moment der Explosion, die ich nicht hörte. Als wir endlich im Auto sassen und versuchten uns durch das Karnevalschaos aus dem Stadtzentrum zu manövrieren, erhielt ich eine Whatsapp-Nachricht aus der Redaktion: „Samuel, es gab eine Explosion in Oruro, könnt ihr dahin gehen?“ Alle begannen auf ihre Handys einzutippen, nach Informationen zu suchen. Ein Essensstand sei in die Luft gegangen, hiess es. Es habe mehrere Tote gegeben. Wir machten die Strassenecke auf Google Maps ausfindig, kurvten durch die Stadt, vorbei an Betrunkenen, an Strassenverkäufern und Kostümierten. Nach zwanzig Minuten waren wir in der Nähe des Unglücksorts. Die Fotografen stürzten los, ich versuchte Schritt zu halten.

Die Szenerie an der Unfallstelle war unwirklich: Im Umkreis von 50 Metern lagen Trümmer, Metallteile, Stofffetzen, Schokoladenpapiere. Der Experte der Spurensicherung, ganz in Weiss, wirkte in der Dunkelheit wie ein Gespenst. Die Blitzlichter der Fotografen zuckten, wenn er Beweismaterial aufhob, es betrachtete, sorgfältig wieder auf den Boden legte. Polizisten mit gefrorenen Mienen schirmten den Unfallort ab, aufgeregte Journalisten sammelten Statements. Eine Verkäuferin schilderte zwischen Schluchzern immer wieder dieselbe Geschichte. Wie sie ein Kind aufgehoben und festgestellt hatte, dass es tot war. Eine Journalistin legte den Arm um sie. Ich fühlte mich fehl am Platz, betrachtete eine Tiefkühltruhe, die so verbogen war, dass nur der Schriftzug einer Biermarke den ursprünglichen Zweck verriet. Ich stellte mich neben ein paar Journalisten, die auf den Boden zeigten. Da lägen Körperteile, sagten sie. Ich sah sie nicht, hörte stattdessen zu, wie der Polizeikommandant mit monotoner Stimme die Namen der Verletzten ab Blatt las. Er brauchte mehrere Minuten. Ich notierte die Zahl der Toten (acht) und den mutmasslichen Grund für die Explosion (falscher Umgang mit einer Gasflasche). In der Ferne dröhnten die Trompeten und Trommeln des Karnavals, wo die Leute weiter tanzten und tranken.

„Hübsche Reportage vom Karnaval!“

Der Ort der Explosion.

Nach einer Stunde gingen wir in ein Restaurant, um Bilder und Texte zu schicken. Es war Mitternacht, als wir Richtung La Paz losfuhren. Ich konnte nicht schlafen, weil ich den Lärm des Karnavals und die Stille des Unfallorts im Kopf hatte. Und weil ich fürchtete, der Fahrer würde einschlafen. Er griff alle paar Minuten in seinen Coca-Beutel, hielt ab und zu an, stieg aus, damit ihn die kühle Nachtluft wecken würde. Mein Fotograf hatte den Kopf an meine Schulter gelehnt und schlief. Ich schaute aus dem Fenster, betrachtete die Dörfer, die nur aus einer Handvoll Häuser entlang der Landstrasse bestanden, und die Lichter der Läden, die aus welchen Gründen auch immer noch geöffnet waren.

Um vier Uhr morgens kamen wir in La Paz an. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich eine Nachricht von der Chefredaktorin auf dem Handy. „Samuel, ich hoffe, es war nicht zu hart. Aber schlussendlich sind wir Journalisten. Übrigens: Hübsche Reportage vom Karnaval!“

Zur Karnevals-Reportage.

Zur Unfall-Reportage.

Zum Bericht über den Unfall

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