Zerrissen zwischen zwei Ländern: Mein Weg mit der Unsicherheit
Es ist eine Herausforderung als Journalistin in Thailand, aus dem Exil, über Myanmar zu schreiben. Die Kontraste sind hart und bringen mich zum Nachdenken. Ein Essay der Autorin.
Die Fahrt morgens auf dem Scooter ist zu kurz, um das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Ich brauche eine halbe Stunde (ja, ich fahre jetzt selbst!), um in die Vorstadt-Redaktion zu kommen. Auf dem Highway halte ich mich an den linken Fahrbahnrand, ein Pickup zieht rechts an mir vorbei, auf der Ladefläche vermummte Menschen, die sich mit Tüchern vor Sonne, Staub und Wind schützen. Links von mir reihen sich Boxringe aneinander, ganz in schwarz gehaltene Thai-Box-Studios.
Es ist eine halbe Stunde Zeit, um mir Gedanken zu machen. In Thailand leben, im touristisch-herausgeputzten Chiang Mai, aber mit Recherchen und in Gesprächen ständig in Myanmar zu sein, ist eine Herausforderung für mich.
Der Kontrast ist gross
Während ich am Vortag zum Stigma psychischer Gesundheit in Myanmar recherchiert habe und einen Mango-Passionsfrucht-Smoothie dazu getrunken habe, wartet ein Paar neben mir auf gepackten Rucksäcken auf ihr Taxi. Der Kontrast könnte nicht grösser sein. Denn die Menschen, mit denen ich Interviews führe, sitzen fest: In Myanmar oder der Grenzregion auf thailändischer Seite.
Und ich werde das ungute Gefühl in meinem Bauch nicht los. Es verunsichert mich, als Neuling in der Region mit all meinen Freiheiten, intime Fragen zu stellen an Menschen in einem Land im Krieg. Menschen in einer ausweglosen Situation, Menschen ohne (absehbare) Aussicht auf Frieden oder Freiheit. Menschen mit Trauma oder Depressionen, ausgelöst von ihren Erlebnissen in Myanmar oder auf der Flucht.
Myanmar gehört zu den ärmsten Ländern Südostasiens und ist seit über 60 Jahren mehr oder weniger im Krieg. Vor dem Coup im Frühling 2021 hatte sich das Land mehr und mehr dem Tourismus geöffnet. In den Regalen von Schweizer Bibliotheken stehen immer noch jede Menge Reiseführer zu Myanmar. Doch jetzt wird im ganzen Land gekämpft und von der Einreise dringend abgeraten.
In Thailand hingegen boomt der Tourismus. Erst kürzlich hat das Land die Visa-Bestimmungen erleichtert, um noch mehr Digital-Nomads in die Ferienkulisse Thailands zu locken, wo sie übers Internet ihren Jobs, zum Beispiel in den USA oder Europa, nachgehen.
Auf meinem Arbeitsweg fahre ich vorbei an lebensgrossen gold-eingefassten, verblichenen Fotos der thailändischen Königsfamilie, vorbei an kleinen Restaurants mit Plastikhockern am Strassenrand. Der Geruch von Fischsauce und gebratenem Fleisch hängt in der Luft.
Ein Fenster nach Myanmar
Wenn ich mit Menschen in Myanmar spreche, treffe ich sie zum Videocall. Es ist mein Fenster in ihr Land. Ich lasse mir Alltägliches erklären, ohne die Situation wirklich umreissen zu können. Ich versuche, eine Kultur zu greifen, die ich nur durch den Bildschirm erlebe.
Mehr als drei Millionen Menschen sind in ihrem eigenen Land auf der Flucht, weil immer wieder und beinahe überall Rebellengruppen und die Armee der Militärjunta kämpfen. Eine weitere Million Menschen hat auf der Suche nach Sicherheit das Land verlassen. Viele Menschen in Myanmar sind traumatisiert und das seit Generationen.
In einem Telefonat erfahre ich von einer Kindheit, in der es zu einem normalen Dienstag gehörte, von der Mutter verprügelt zu werden und nachts vor Schmerzen nicht schlafen zu können. In einem anderen sehe ich verpixelte Tränen über ein Gesicht laufen, das sich für Selbstmordgedanken schämt.
Der Videocall bricht immer wieder ab, weil das Internet in Myanmar instabil ist. Dann stelle ich nochmal die gleichen Fragen. Fragen, die vielleicht den kulturellen Codex sprengen. Die ich versuche behutsam zu stellen und mir trotzdem wie ein Eindringling vorkomme.
Jede Frage wirft neue Fragen auf
Die Antworten, die ich in meinen Interviews bekomme, verstehe ich nur bedingt. Ich lerne, dass es nicht zu ihrer Kultur gehört, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und dass die Menschen, vom Buddhismus geprägt, glauben, Leben besteht aus Leiden und das müsse man aushalten. Doch wenn ich mir ausmale, wie viel die Menschen aushalten, wirft es mich aus dem Takt. Ich vergesse für einen Moment, was ich eigentlich fragen wollte.
Ein Gespräch beginnt mit der Feststellung meines Gegenübers, wie viel Glück ich habe, Schweizerin zu sein. Ein Gedanke, der auch mich begleitet. Und der in mir Unsicherheit auslöst: Warum soll ausgerechnet ich über diese Menschen berichten? Warum wusste ich, wie die meisten in Europa, bis jetzt so wenig über die Konflikte in der Region? Mir fehlt das Verständnis dafür, was das mit einer Gesellschaft macht, wenn sie seit über 60 Jahren Gewalt erfährt.
Unsicherheit trifft auf Dankbarkeit
Der Verkehr auf meinem Arbeitsweg wird weniger, die Strassen enger. Kurven scheinen wie mit dem Lineal gezogen, mit mehr Kanten als Rundungen. Tellergrosse welke Blätter liegen auf dem Boden.
Eine halbe Stunde auf dem Scooter ist zu kurz, um zu verarbeiten, was mir Menschen erzählen, um meine Verunsicherung zu zerstreuen. Darum akzeptiere ich das unsichere Bauchgefühl als ständige Begleiterin und frage weiter.
Ich parke den Scooter auf der schattigen Veranda der Redaktion, hänge meinen Helm an den Seitenspiegel, raste die Lenkradsperre ein, ziehe die Schuhe am Eingang aus und bin um 9:45 Uhr die erste, die das als Büro genutzte Wohnzimmer betritt.
Was mich am Ende in meinem Tun bestärkt: Alle Menschen mit denen ich spreche, sind froh, dass ihnen endlich jemand zuhört und sie ihr Schweigen brechen können.
Denn wie Carolin Emcke mal bei SRF Sternstunde Philosophie gesagt hat: „Das Schweigen über die Dinge, überlässt dem Unrecht den Platz“.
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