Wahlen in Ghana: Ein Marathon für die Redaktion
Wahlen sind ein Pulsmesser für den Zustand eines Landes und seiner Bevölkerung. Für mich als Auslandredaktorin gehören sie zu den spannendsten Momenten. Ich liebe das Adrenalin, die Anspannung und die Höchstleistung, die man an solchen Tagen erlebt und erbringt. Nach einem 15-stündigen Marathon fühlt sich das Bett dann umso besser an.
So war das «Superwahljahr» 2024 für mich ein Jahr voller Höhepunkte, gekrönt von den nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Ghana. Nach sieben Wochen vor Ort konnte ich diese am vergangenen Samstag hautnah miterleben. Besonders spannend für mich war die Frage, wie die Wahlen in einer noch eher jungen Demokratie ablaufen würden und wie sich Pulse auf ein solches Ereignis vorbereitet.
Gemischte Gefühle vor den Wahlen
Die letzten Wochen vor den Wahlen konnte man dieses Thema kaum verpassen. Die Strassen waren voll gepflastert mit Plakaten der Kandidierenden, in den Medien wurde intensiv darüber berichtet und die Diskussionen drehten sich oft um die politische und wirtschaftliche Situation des Landes. Viele Ghanaer:innen, mit denen ich gesprochen habe, waren frustriert. Der amtierende Präsident und seine Regierung hätten in den vergangenen Jahren eine schlechte Arbeit geleistet. Die hohe Verschuldung des Landes und die Wirtschaftskrise seien ihre Schuld.
Trotz dieser Frustration hatten mir viele gesagt, dass sie gar nicht wählen gehen wollen. „Unsere Stimme zählt doch sowieso nicht“, hörte ich oft, „sobald die Politiker an der Macht sind, kümmern sie sich nicht mehr um uns.“ Diejenigen, die wählen wollten, unterstützten meistens die Opposition. Diese allgemeine Stimmung spiegelte sich auch bei Pulse wider: Von 40 Mitarbeitenden planten nur sechs, wählen zu gehen – für die Opposition.
Improvisation anstatt akribische Organisation
Für Pulse waren die Wahlen natürlich trotzdem ein Grossereignis. Die Planung der gewünschten umfassenden Berichterstattung verlief im Vergleich zu den akribischen Vorbereitungen, die ich aus der Schweiz kenne, deutlich entspannter. Zwei Wochen vor dem Wahltag wurden in einer Redaktionssitzung die Aufgaben verteilt und besprochen, welche Artikel noch veröffentlicht werden sollten. Dort erfuhren wir auch, dass das Wahlteam von Freitag (einem Feiertag) bis Montag durcharbeiten würde und von Samstag auf Sonntag im Büro bleiben soll. Dafür gab es im Nachgang zwei zusätzliche Homeoffice-Tage, einen kleinen Bonus für die Verpflegung und ein Datenpaket für das Handy.
Auch wenn es leises Murren über die Bedingungen gab, so sorgte vor allem die Sicherheit bei den Ausseneinsätzen für Diskussionen. Denn bei Wahlen sind Ausschreitungen in Ghana keine Seltenheit. Die Anweisung lautete: Vorsichtig sein und sich selbst schützen – aber wenn möglich, Unruhen filmen.
Holpriger Start in den Wahltag
Am Wahltag wartete ich pünktlich um 8 Uhr auf meinen Kollegen Nicholas. Gemeinsam sollten wir durch Accra fahren, die Reaktionen der Bevölkerung einfangen und beobachten, ob die Wahlen friedlich verlaufen. Dass wir für die Videos mein Handy und Mikrofon brauchen würden, stellte sich einen Tag zuvor heraus. Das Problem: Mein Windschutz hatte das SRF-Logo drauf. Das sei schon in Ordnung, versicherten mir meine Kollegen noch am Freitag, sie hätten einen Windschutz. Doch dieser war am Samstagmorgen nirgends zu finden.
Mein Vorschlag, Pulse-Sticker auf meinen zu kleben, wurde zunächst abgelehnt. Mit fortschreitender Zeit schien meine Idee gar nicht mehr so schlecht. Aber, auch Sticker waren ein rares Gut. Also kratzen wir sie von den Fenstern, um sie mit Leim auf den Windschutz zu kleben. Liebe Leserin, lieber Leser – Sie ahnen es schon: Auch diesen gab es nicht im Haus.
Wo sind die Wähler:innen?
Wollten wir eigentlich um 8 Uhr beim ersten Wahllokal ankommen, wurde es schlussendlich 10 Uhr. Zum Glück und entgegen unseren Erwartungen waren nur wenige Menschen auf den Strassen und noch weniger Autos unterwegs. Auch unser erstes Wahllokal, ein provisorisches Plastikzelt, war überraschend leer. Eine Handvoll Wähler:innen wartete in der schwülen Hitze darauf, ihre Stimme abzugeben, umgeben von Dutzenden Wahlhelfer:innen und Polizisten.
Wir stellten uns bei der Polizei vor und führten schon wenige Minuten später die ersten Interviews. Ich muss zugeben, dass ich etwas nervös war. Normalerweise bin ich als Radiojournalistin unterwegs und weiss, welches Mikrofon ich für welche Situation brauche. Videos waren hingegen Neuland für mich. Nicholas war aber ganz zufrieden: «Nächsten Mal bitte nur bis zur Hüfte filmen, sonst ist alles gut.»
In der Hoffnung, im Stadtzentrum mehr Menschen anzutreffen, fuhren wir weiter. Eine lebendige Strasse, in der Dutzende Verkäufer:innen Kleider, Elektrogeräte, Esswaren und vieles mehr anboten, war unser nächster Halt. Hier sollten gleich zwei Wahllokale den Ansturm bewältigen. Etwas übertrieben für die sieben Nasen, die dort gerade wählen wollten, als wir ankamen.
Es war ein Bild, das wir an diesem Tag überall sahen. Das mag zum einen daran gelegen haben, dass die Wahlbeteiligung tatsächlich niedriger war als bei anderen Urnengängen. Zum anderen aber auch an der Strategie der Wahlkommission, die mehr Wahllokale eingerichtet hatte, um eine Überlastung zu vermeiden.
Eine Frage der Transparenz
Am Nachmittag kehrten wir ins Büro zurück, bevor wir am Abend erneut losfuhren. Jetzt herrschte mehr Betrieb. Bürger:innen, Polizisten, Militärs, Wahlhelferinnen, Journalisten und Parteiangehörige – sie alle wollten dabei sein, wenn um 17 Uhr die Wahllokale schlossen und das Auszählen begann. Fasziniert beobachtete ich, wie zunächst die Stimmzettel gezählt und nach Partei sortiert wurden. Dann folgte die eigentliche Auszählung. Die Wahlhelfer zählten laut die Stimmzettel und wurden dabei von der Menge beobachtet und gefilmt. „Das ist wichtig“, erklärte Nicholas, „damit niemand die Ergebnisse anzweifelt.“
Nach der Auszählung sollten die Stimmzettel in versiegelten Boxen ins Koalitionszentrum gebracht werden. War der Tag bis dahin friedlich verlaufen, schlug nun die Stimmung plötzlich um. Die Anhänger:innen der Opposition befürchteten, die Boxen seien nicht korrekt versiegelt worden. Eine aufgebrachte Menge versuchte, den Abtransport zu verhindern. Es wurde geschubst und geschrien – Nicholas und ich mittendrin.
Es war nicht der einzige Zwischenfall in dieser Wahlnacht. Auch an anderen Orten kam es zu ähnlichen Spannungen, in einigen wenigen Fällen sogar zu Schiessereien. Insgesamt verliefen die Wahlen im Vergleich zu früheren Jahren aber relativ friedlich.
Feiern für den Wandel
In vielen Wahllokalen war bereits früh klar, dass die Oppositionspartei und ihr Präsidentschaftskandidat gewonnen hatten. Ihre Anhänger:innen versammelten sich darum schon in der Nacht, um zu feiern. Einen Tag später war der Sieg komplett.
Der alte und der neue Präsident
Nana Akufo-Addo: Der 80-jährige der New Patriotic Party (Mitte-rechts) durfte nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Bevor er Präsident wurde, war Akufo-Addo Generalstaatsanwalt, Abgeordneter und Minister. Unter seiner Regierung litt Ghana unter einer schweren Wirtschaftskrise, was in der Bevölkerung zu Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Veränderung führte. Seine Partei schickte seinen Vizepräsidenten Mahamadu Bawumia ins Rennen um das Präsidentschaftsamt.
John Dramani Mahama: Der 66-jährige Politiker des National Democratic Congress (Mitte-links) ist ein erfahrener Politiker und hat Ghana bereits zwischen 2012 und 2017 geführt. Jedoch war er bei den Wahlen 2016 nicht wiedergewählt worden und auch 2020 verlor er gegen Akufo-Addo. Mahama übernimmt nun Ghanas Präsidentschaft in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Im Wahlkampf versprach er der Bevölkerung einen Neuanfang. Kritische Stimmen mahnen jedoch, dass er möglicherweise nicht der richtige Mann für diese Aufgabe sei, da seine ehemalige Regierung auch von wirtschaftlichen Problemen und einer Reihe von Korruptionsskandalen betroffen war.
Der Kandidat der Regierungspartei räumte seine Niederlage ein und erklärte: «Die Bevölkerung hat für den Wandel gestimmt. Wir respektieren die Entscheidung in aller Demut». Ab Januar ist John Mahama Präsident von Ghana. Bereits zum zweiten Mal.
Die Feierlichkeiten gingen auch am Sonntagmorgen weiter. Menschen in roten, grünen und weissen Kleidern – die Farbe der Partei – tanzten, hupten und jubelten durch die Strassen Accras. Jeder und jede wollte etwas in unser Mikrofon sagen: «Mahama wird den Wandel bringen. Er wird Ghana retten».
Die ausgelassene Stimmung auf den Strassen war sicherlich eine Momentaufnahme. Ob der erhoffte Wandel wirklich kommt, bleibt abzuwarten. Auch wenn wir die Frustration der Ghanaer und Ghanaerinnen an diesem Morgen nicht gesehen haben, verschwunden ist sie nicht. Für uns hingegen waren es zwei intensive, aber erfolgreiche Tage, mit zig Interviews und Reaktionen, dutzenden geschnittenen Videos für die sozialen Kanäle und tausenden Likes – und für mich die Erkenntnis, dass mein Radioherz auch ein bisschen Platz für Videos hat.
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