Küsschen statt Händedruck: Meine ersten Wochen in Peru
«Bienvenidos a Peru». Mit diesen Begrüssungsworten von Verwandten erreiche ich die Hauptstadt Lima, zehn Tage vor Beginn meiner Arbeit bei der Tageszeitung «La República». Nachdem ich bereits im Juli mit einer ehemaligen Arbeitskollegin touristische Highlights wie den Machu Picchu erkundet, die Nazca-Linien bestaunt, den peruanischen Nationalfeiertag zelebriert und auf einer schwimmenden Schilfinsel bei den Urus, einer indigenen Volksgruppe auf dem Titicacasee, übernachtet habe, bleibt mir nun noch etwas Zeit, um mich mit Lima und deren Einwohnern, den Limeños und Limeñas, vertraut zu machen.









Einige Impressionen meiner Reise durch Peru (Fotos: Janina Schenker)
Freude, Feste und Familientreffen
Während meines insgesamt fast dreimonatigen Aufenthaltes im Land der Inkas darf ich bei der Cousine meiner Tante und ihrer 92-jährigen Mutter wohnen. Meine Tante, die Ehefrau meines Onkels väterlicherseits, und mein Cousin machen bei meiner Ankunft in Lima Ferien und Familienbesuche. Aus Wiedersehensfreude gehen wir in Restaurants und Bars, schlendern durch die Strassen von Limas Künstlerviertel Barranco.
Bei Familientreffen lerne ich Cousinen meiner Tante, ihren Bruder und Cousins und Cousinen meines Cousins kennen. Meine These, dass alle Lateinamerikaner unglaublich gastfreundlich sind, bestätigt sich einmal mehr. Ich werde im Verwandtenkreis meiner Tante wie ein Familienmitglied aufgenommen, obwohl ich nicht blutsverwandt bin. Der Ehemann der Cousine meiner Tante will mir sogar einen Hausschlüssel geben, damit ich jederzeit vorbeikommen kann.


Familientreffen in Lima (Fotos: Janina Schenker)
«Willkommen im besten Team der Zeitung»
Nach zehn Tagen Geniessen, Schlemmen und Free-Walking-Touren ruft die Arbeit. Da ausgerechnet an meinem ersten Arbeitstag die Räume ausgeräuchert werden, beginne ich im Homeoffice. Ich bekomme einen kleinen Coronavirus-Flashback, als mir mein neuer Chef, der Leiter des Ressorts «Welt/USA/Wissenschaft», per Google-Meet eine Einführung in die Website gibt. In der Whatsapp-Gruppe des Auslandsressorts werde ich mit Nachrichten wie «Willkommen im besten Team der Zeitung» oder «Du kannst auf uns zählen, bis bald» herzlich begrüsst.
Waldbrände und Expertensuche
Meine erste Aufgabe im Homeoffice: einen Artikel über die Waldbrände in Bolivien und Brasilien schreiben. In Bolivien wurde seit Juni Wald zerstört, der der Fläche der gesamten Schweiz entspricht. In Brasilien brennen so viele Wälder wie seit zwei Jahrzehnten nicht. Nach vergeblichen Versuchen, in Peru Experten für ein Interview zu finden, gelingt es mir schliesslich, Kontakt zu einer bolivianischen Journalistin herzustellen, die sich auf Umweltthemen spezialisiert hat. Kollegen, die ich auf Reisen kennengelernt habe, vermitteln mir Kontakte zu Betroffenen für einen weiteren Artikel.
Zugegeben, ich bin etwas nervös, meine ersten beiden Artikel auf Spanisch zu schreiben. Neben dem Respekt vor dem Neuen fehlten mir auch Vorgaben wie Titellänge, maximale Zeichenzahl, Bildauflösung und so weiter. Viele interne Regeln, die ich aus meiner journalistischen Arbeit in der Schweiz gewohnt bin, gibt es hier nicht. Ähnlich wie bei meinem Stagiaire-Kollegen Tim in Kenia ist auch in Peru kaum jemand daran interessiert, Zitate gegenzulesen. Ab und zu wird man aber gebeten, den publizierten Artikel weiterzuleiten.
Peruanische Begrüssungsrituale: Küsschen oder Handschlag
Mir ist durchaus bewusst, dass in Lateinamerika vieles entspannter ist als in Europa: Weniger Regeln, lockere Umgangsformen und «la hora latina», eine zeitlich viel ausgedehntere Version der Schweizer Pünktlichkeit. Trotzdem staune ich nicht schlecht, als ich zum ersten Mal die Büros von «La República» betrete und von meinen 14 neuen Teamkollegen mit einem Küsschen auf die Wange begrüsst werde.

Mein Gesichtsausdruck ist nach dem gefühlten zehnten Begrüssungskuss etwas irritiert, denn mein Chef, der Leiter des Auslandsressorts, fragt mich überrascht: «Macht ihr das in der Schweiz nicht so?» Ich verneine und erkläre, dass wir uns in Firmen die Hand schütteln. «Oh, sorry!» Aber gerade solche kulturellen Unterschiede machen den Einblick in die journalistische Arbeit in einem anderen Land doch besonders spannend. Ich beschliesse, meine Arbeitskollegen von nun an auf peruanische Art zu begrüssen.
Interesse an der Schweiz und Mini-Deutschkurs
Es vergeht kaum eine Stunde, da löchern mich meine neuen Teamkollegen mit Fragen über die Schweiz. Welche Sprachen sprecht ihr? Wie kalt wird es im Winter in der Schweiz? Mit welcher Währung bezahlt man? Es folgt ein Mini-Deutschkurs nach der Mittagspause, gefolgt von Klagen, wie schwer es doch sei, Deutsch zu lernen. Ich entgegne, dass es mir beim Spanischlernen nicht anders ergangen sei. Wir diskutieren noch ein wenig weiter, bis wir plötzlich gebeten werden, leise zu sein, weil zwei Journalisten mitten im Grossraumbüro ein Fussballspiel live auf Youtube kommentieren.
Liveübertragung mitten im Grossraumbüro
Über das Erstligaspiel zwischen Atlético Grau und Alianza Lima wird noch etwas emotionaler und lauter diskutiert – oder ich würde fast sagen «geschrien – als ich es von Fussballkommentatoren in der Schweiz gewohnt bin. Ich kann es kaum glauben: Alle anderen Journalisten arbeiten bei gefühlten 80 Dezibel ruhig und konzentriert weiter. In Schweizer Redaktionen sind sogar Telefonkabinen oder Vertonungsräume üblich, und in Peru gibt es Live-Sendungen im Grossraumbüro? Schmunzelnd erinnere ich mich an einen in ganz Südamerika beliebten Satz, wenn etwas Lustiges passiert, das dem lateinamerikanischen Stereotyp entspricht: «Imagínate vivir en Suiza y perderte esto».
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